Ich sitze in einer Bar. Ich weiß nicht mehr genau, wie ich da hin gekommen bin. Wir sind alle
rübergegangen, es ist der vorletzte Tag unserer Lesetour, das heißt, wir sind müde, noch fertiger als am Tag vorher, und am dem davor, und unsere gegenseitigen Versicherungen, dass wir heute auf jeden Fall früh schlafen gehen und nicht mehr so viel Bier trinken werden, glauben wir uns nicht mehr. Es ist nach Mitternacht, irgendeine dieser Stunden, die man nie so genau mitzählt.
Hausbar. Foto von mir. |
Ich bin Teil einer Traube Menschen, von denen ein paar Leute noch nach irgendwo anders gehen wollen, ich weiß nicht, wo, man kann da tanzen, und ein Freund legt auf, eine dieser Sachen. Alle reden laut. Jemand baggert an jemandem rum, jemand anders erklärt irgendetwas, was morgen keiner mehr braucht, jemand drittes legt den Arm um jemand viertes, die Musik wird jede Viertelstunde lauter.
Ich zone aus. Mache ich manchmal in solchen Situationen. Meine Augen stellen sich unscharf. Alle Geräusche werden eins. Mein Bier trinkt sich von alleine.
Und dann gibt es dieses andere Geräusch. Eine Art Lachen, dass sich spitz durch den Raum, durch die Gespräche, durch die Durschnittsbeats bohrt.
Der Laden ist voll, es ist mitten in der Nacht, an einem Samstag. Man feiert. Das tut man dort so. An einem Vierertisch sitzt ganz allein eine Frau, einen Weißwein und ein Glas Wasser neben sich, und liest in einem Buch. Sie hat es vor sich liegen, ich kann den Titel nicht erkennen. Sie ist älter, 50, vielleicht, etwas wirre ausblondierte Haare. Nach jedem Absatz macht sie eine Pause, seufzt einmal tief, fährt sich durch die Haare, muss einen Schluck Wein trinken: Das Buch macht sie fertig. So richtig. Ich habe so etwas noch nie gesehen, noch nie erlebt, nicht bei mir selbst, nicht in der Bahn, nirgends.
Ich kann mir keinen unpassenderen Platz vorstellen, um zu lesen, mitten in einer Bar in einer lauten Samstagnacht. Ich könnte mir keinen unpassenderen Platz vorstellen, um mit einer solchen emotionalen Anteilnahme zu lesen.
Vielleicht ist lesen auch das falsche Wort: Es sieht mehr aus, als sei das Buch ihr Stoff, irgendein Zeug, das sie wie den Wein ein sich reinsaugt. Die Buchtrinkerin.
Ich möchte nicht allzu hart romantisieren, denn diese Frau hat offensichtlich einen an der Waffel, aber: solche Menschen, sollen, bitteschön, meine Leser sein. Die Irren, die noch klar genug sind, sich wenigstens mit teurem Wein zu betrinken, die den bekloppten Beat um sich herum komplett ignorieren, und sich hin und wieder mit großen Gesten die ein oder andere Träne oder seltener auch ein Lächeln aus dem Gesicht wischen.