Freitag, 30. November 2012

Kriegsberichterstattung

"Anonymous wandelte sich mit der Zeit zu einer starken, kollektiven Identität, und mit der Zeit entstand aus der zügellosen Ursuppe von /b/ etwas anderes: /b/ war nunmehr nur die Keimzelle, der Ort, Anonymous nannten sich die Menschen, die sich dort bewegten. Und sie wollten sich ihre Freiheiten um keinen Preis beschneiden lassen"

Erster Teil der Reportage hier. Der zweite Teil ist hier


Flagge ohne Identität. Bild von hier.
Ende 2010 / Anfang 2011 legte ich mir ein hochkarätiges Antivirenprogramm zu und trieb mich in der Ursuppe des Internets (NSFW!) rum. Das war die Zeit der großen Attacken von Anonymous-Aktivisten mit der Operation "Payback" auf sich aufmerksam machten. Es gab eine Menge Berichterstattung über diese neue Form des Aktivismus. Mich interessierte das, nicht unbedingt der Aktivismus und die politischen Implikationen als solche - obwohl er deutlich weniger muffig ist als alles andere, was sich vorher so Aktivismus nennen konnte -, sondern eher die Frage, wie eine solche Gruppe überhaupt funktioniert, und wie sie sich entwickeln konnte. 

Ich befasste mich also mit der Geschichte von Anonymous, versuchte, Fakten von Legenden zu trennen, versuchte, mich damit zu befassen, wie ein kollektives Bewusstsein überhaupt greifbar sein kann, ohne mich auf Vereinfachungen einzulassen (Stanislaw Lem half mir bei dieser Frage weiter). 

Ich stellte fest, dass die meiste Berichterstattung den Fokus auf die politischen Aktionen von Anonymous legte, aber mit keinem Wort das erwähnte, was ich für mich unter "grobem Unfug" zusammenfasste, also diejenigen Aktionen, denen man von außen keinen Zweck, keinen Sinn auferlegen konnte, Aktionen, die einfach nur böse waren, kaum mehr als pubertärer Humor.

Das ist auch wieder so eine Geschichte, die längst von der Realität eingeholt worden ist - spricht noch jemand von Anonymous, in letzter Zeit? - und ich glaube, dass meine These, dass diese medial erzwungene Ausrichtung von Anonymous auf politische Ziele das Ende des Kollektivs bedeutete, sich als richtig erwiesen hat. 

Absprung


Ganz ehrlich gesagt: Ich weiß nicht mehr genau, wann ich diese Kurzgeschichte geschrieben habe. Ich platziere sie einfach mal nach 2010, das könnte hinkommen, vielleicht war es aber auch 2011. Es spielt auch keine Rolle, es ist eine dieser Kurzgeschichten, die mir manchmal passieren, Ausschuss, ein paar Seiten, die ich hinhacke, wenn gerade eigentlich etwas anderes ansteht. Ausnahmsweise ist es mal eine, die ich tatsächlich beendet habe [Hier gibt es übrigens mehr davon für billig als eBook zu kaufen].

Es ist eine Geschichte, die ziemlich typisch für die Art ist, wie ich arbeite, auch, wenn sie sprachlich und inhaltlich mir zwar gefällt, aber doch eher Sub-Standard ist. Es ist aber, typisch für mich, eine wirr zusammgebastelte Angelegenheit aus Erinnerung und Erfindung, Borderline-Surrealismus, halb verstandenen Frauengeschichten und dazu noch immer wieder dieser Zoom auf vielleicht (etwas zu) symbolische Details. 

Untypisch, für mich, ist dieses Medien-Ding, also zum Beispiel, dass es um einen Super Nintendo geht. Normalerweise versuche ich hermetische Referenzräume zu bauen, also Geschichten, die sich nur an ihrem eigenen Motivfundus bedienen - Ideengeber in ist da, in gewisser Weise, David Lynch - , und sie nicht mit allzu sehr belegten Fremdmotiven, also solchen von außen anzureichern (mir ist klar, dass das nicht vollständig möglich ist, trotzdem).  
Das erleichtert mir meine leichte Tendenz zu surrealen Bildern, oder zu solchen aus dem magischem Realismus aber das sagen nur Leute, die mich beleidigen wollen. Auf jeden Fall ist es so viel einfacher, meine eigenen Motive zu unterwandern und zu drehen, es gibt mir eine größere Kontrolle über Motive und Bilder. Untypischerweise ist das in dieser Geschichte auch gar nicht so stark, in dem Sinn ist sie, für mich, auch ein bisschen experimentell. Aber nicht sehr.



Feigling


Bild von hier.
Als wir jung waren, sprangen wir ständig: Wir sprangen von Bäumen, wir sprangen vom Rutschturm auf dem Spielplatz, im Sommer sprangen wir ins Wasser und im Winter in den Schnee, wir sprangen in die dunklen Keller verlassener Gebäude, um unseren Mut zu beweisen, und wenn es nichts gab, von wo wir runterspringen konnten, sprangen wir einfach auf der Stelle auf und ab. Als wir jung waren, verbrachten wir mehr Zeit in der Luft als auf dem Boden.
Was mich heute wundert, ist nicht, dass wir fünf Jahre lang ununterbrochen flogen, viel mehr wundert mich, dass wir dabei so selten fielen.


Es gibt nur eine Verletzung, an die ich mich erinnern kann: Ich brach mir beide Arme. Zuerst merkte es niemand. Ich war von einem Kastanienbaum gesprungen, es war Herbst, und wurde früh dunkel, ich hatte die Kastanien übersehen, die unten um den Baum lagen. Ich landete zwar auf den Füßen, aber meine Füße rollten auf den glatten Früchten weg, mitten im Schwung meines Aufpralls, ich fiel nach vorne, und knallte mit beiden Armen auf die Kastanien. Meine Freunde – diejenigen mit denen ich damals flog – standen in einem Kreis um mich herum. Unsere Eltern riefen uns praktisch gleichzeitig zum Essen rein.

Donnerstag, 29. November 2012

Schrott

Das Cover. Gutes Buch.
 "Ich schleifte kaputte Europaletten vom Supermarkt die Bahngleise runter zu meinem Schrottlager im Birkenwäldchen, ich durchstöberte die Fabrik, erst nur den Vorplatz, später die Gebäude, nach brauchbaren Gegenständen, verrosteten Metallteilen jeder Größe, zum Beispiel. Einmal fand ich ein drei Meter langes Plastikrohr. Ich weiß nicht, wie viel Schrott am Ende in dem Versteck im Wäldchen lag, heute habe ich den Eindruck, es muss mindestens eine Tonne gewesen sein. Ich wollte mit all dem Schrott nichts, ich schleppte ihn kilometerweit, nicht, weil ich damit etwas bauen wollte, nicht, weil ich irgendwas damit plante. An diese Geschichte musste ich denken, als ich – über Facebook, natürlich – die Nachricht bekam, ich solle doch einen Essay über Facebook schreiben."

Mehr hier. 


2010 war Facebook noch anders als heute. Es gab die neue Timeline noch nicht, es gab die Funktion, dass man Kommentare liken konnte noch nicht. Trotzdem waren wir - die Autoren des Buches und die Herausgeber - von Facebook fasziniert. Es war eine Maschine, die wir gerade erst so richtig entdeckten, eine Maschine, die wie für uns alles gemacht war. 

In meinem Freundeskreis sind hauptsächlich Journalisten, Autoren, Theaterleute, Kulturvolk, eben, und Facebook bot uns die Möglichkeit, uns auszutauschen, auf das hinzuweisen, was wir gerade so taten, was wir gerade dachten. Damals - und heute immernoch - ist mein Facebook-Stream eine glitzernde Angelegenheit voller interessanter Werkstattgespräche, voller Notizen und Artikeln von klugen Menschen, wie sie die Welt um uns herum beobachten, ich habe schon mehr als nur ein Projekt über Facebook geplant. 

Dieses Buch - "Statusmeldungen. Schreiben in Facebook." steckt voller Essays dieser Leute darüber, was ihnen Facebook bedeutet. Was Facebook kann, wenn man versucht, es kreativ zu benutzen. Kaufen kann man es hier, beim Blumenkamp-Verlag, in dem dann später auch das von mir herausgebene Standardwerk übers Luftgitarrespielen erschienen ist. 

Mittwoch, 28. November 2012

Tristesse brutale

Verfall eines Traumes. Bild von mir.
"So sehen also Träume aus, wenn sie verfallen. Rostiges Drahtwerk, das aus zerbröckelndem, rohem Beton schaut, Durchgänge, die mit Brettern vernagelt sind, Fahrstühle, die sich nur mühsam auf die höheren Ebenen hochächzen, Etagen, die einfach komplett gesperrt sind, weil im Boden riesige Löcher klaffen, der Weg zur KiTa ein einziger dunkler Gang, den man Kinder und Erwachsene noch nicht einmal am hellen Tag entlang schicken würde. Und über allem das ständige Tropfen von Wasser und das Surren flackernder Neonröhren."
Mehr hier.


Hannover ist keine schöne Stadt, zumindest nicht architektonisch, da kann man nichts machen: Alles steht voll von diesen nach dem 2. Weltkrieg schnell hochgezogenen Betobauten, grau, funktional, nach irgendwelchen völlig veralteten Bauidealen konzipiert. Damit ist Hannover nicht alleine.

Das Ihme-Zentrum allerdings ist ein völlig andere Geschichte, eine, die mich immer wieder fasziniert, wenn ich zufällig dran vorbeigehe. Das Ihme-Zentrum ist monumental, wirklich monumental. Es nimmt eine ganze Halbinsel ein, es könnten so viele Menschen darin wohnen wie in einem eigenen Stadtviertel, es hat das größte zusammenhängende Betonfundament Europas. Unter allen Bausünden, die es in Hannover so gibt, war das Ihme-Zentrum die ambitionierteste, und ist dann auch am schlimmsten nach hinten los gegangen: Im Moment verfällt es, die unteren Geschosse stehen leer, jede Investition in die Gebäude ist schief gegangen, jeder Renovierungsversuch war bis jetzt ein Geldgrab, an dem die beteiligten Firmen sich die Zähne ausgebissen haben. 

Das Spannende am Ihme-Zentrum - mal abgesehen davon, dass es ein Lehrstück über die Architektur der 70er Jahre und die Verflechtungen amerikanischer und deutscher Investoren ist - ist, dass es mittlerweile seine eigenen Großstadtmythen produziert. Ständig verschwinden dort Menschen, es gibt Spekulationen über eine überflutete U-Bahn Station irgendwo in den Kellereingeweiden des Gebäudes, in einem der Türme ist angeblich ein nie in Betrieb genommenes Schwimmbad. Langsam aber sicher bewegt sich das Ihme-Zentrum in Richtung Lovecraft. 

Und weil ich Lovecraft, monumentale Dinge und Ruinen mag, bin ich eines Tages mit meiner Kamera losgezogen, habe eine Ortsbegehung gemacht, ein bisschen recherchiert und eine Reportage inklusive schicker Fotostrecke darüber gemacht. Die verlinkte Reportage ist zwar zwei Jahre alt, aber es hat sich an den Zuständen dort nichts großartig verändert. Nach wie vor passiert nichts, nach wie vor gibt es keine Investoren und kaum Pläne, das Ihme-Zentrum in naher Zukunft wieder etwas bewohnbarer zu machen. Es gibt Ideen, das schon, immer wieder neue, aber es passiert nichts.

Noch zwei interessante Seitenarme der Sache: Einen Tag nachdem die Reportage erschien, rief mich Pressesprecherin der Landesbank Berlin an, die im Moment Hauptgläubiger der Unternehmen ist, die sich am Ihme-Zentrum die Zähne ausgebissen haben, und wollte ein paar Fakten richtig stellen. In der ersten Version des Artikels hatte ich leicht missverstanden, was genau ein Insolvenzverwalter eigentlich tut, aber, zu meiner Verteidigung: Das ist nicht mein Fachgebiet, und außerdem ist es kompliziert. Nachdem die Pressesprecherin mir eine halbe Stunde lang Insolvenzrecht erklärte, müsste es jetzt aber stimmen. 

Und: Zur verlinkten Reportage gibt es noch eine Prosaversion, die unter dem Titel "Unter den Türmen hinter der Stadt" im März 2012 in der Bella Triste Nr. 32 erschienen ist [Ich werde sie in den nächsten Wochen auch hier ins Blog stellen].


Dienstag, 27. November 2012

Penisse

Sie sieht dich. Bild von hier.

Dieser Essay entstand ursprünglich für einen Wettbewerb für Radioessays, und schaffte es dann offensichtlich doch nicht, jemanden von sich zu überzeugen. Das Thema was "Der / die / das nächste, bitte", und ich weiß nicht, warum er nicht genommen wurde. Vielleicht, ziemlich oft das Wort "Penisse" benutzt wird. Vielleicht, weil das Thema doch etwas arg nerdig ist. 

Vielleicht ist er auch einfach nur schlecht. Andererseits konnte ich ihn ja doch veröffentlichen, und habe von der ein oder anderen Seite Gutes darüber gehört.



Heute wirkt er ein bisschen altbacken, als sei schon viel mehr Zeit als die zwei Jahre vergangen, seitdem er entstanden ist. Spricht heute noch jemand von Chatroulette? Ich wusste noch nicht einmal, ob die Seite noch online ist. Sie ist es noch, Und sie funktioniert noch. Und an ihrer Penislastigkeit hat sich auch nichts geändert. 



Andererseits glaube ich, über Chatroulette hinaus, dass die grundsätzlichen Aussagen des Essays noch aktuell sind: Dass der Raum, in dem man im Netz agieren kann und soll konsequent kleiner wird. Dass Aufmerksamkeit generieren heißt,  die User davon abzuhalten herauszufinden, was es sonst noch gibt, was das nächste ist. Und dass es genau deshalb immer wieder etwas neues, etwas nächstes gibt. Dass Chatroulette auch schon wieder alt ist und keinen mehr interessiert, ist auch nur ein Symptom davon.



Penisse sind erst der Anfang


Eigentlich ist das System "Chatroulette" ganz einfach, wenn man es nach dem Abflauen der Hysterie betrachtet: Man setzt sich vor die Webcam, und Chat- Roulette verbindet einen per Zufallsgenerator mit jemandem, der gerade genau dasselbe tut.

Leider ist das allzuoft jemand, der meint, ihm beim Masturbieren zuzusehen, sei genau das, worauf sein neuer, zufälliger Freund gerade noch gewartet hätte.

Jeder Chatroulette-Nutzer ist anonym. Und wer anonym ist, hat mit niemandem Konsequenzen auszuhandeln als mit sich selbst. Also sind alle Regeln erst einmal außer Kraft gesetzt. Sowohl diejenigen die Chatroulette vorgibt - „16+, clothes“ - als auch grundlegende Regeln des menschlichen Zusammenlebens wie „Du sollst Fremden nicht deinen erigierten Penis zeigen und sie dann noch fragen, ob sie dir ihre Brüste zeigen“ Oder umgekehrt, auch das soll es geben. Positiv formuliert heißt das: Bei Chatroulette ist jeder sich selbst überlassen.

Der Notausstieg ist der Next-Button, unten rechts, unter dem eigenen Bild: Wenn meine Maßstäbe und die des Partners nicht zusammenpassen, steige ich einfach aus. Oder, weniger drastisch formuliert: Wenn der Partner mir zu nackt, zu angezogen, zu dünn, zu dick, zu dumm, zu klug oder zu laut ist, wenn ich also, nach Hundersttelsekunden oberflächlicher Bewertung zu dem Schluss komme, dass wir nicht zusammenpassen, kann ich schnell und einfach verschwinden. Das ist die einzige Regel, die bei Chatroulette gilt. Wer nicht will, kann weiter. Immer, jederzeit. Der Nächste wartet schon.

Die Gier nach Aufmerksamkeit

Viele Chatroulette-Nutzer gieren nach Aufmerksamkeit. Manche Nutzer inszenieren regelrechte Sekunden-Performances, um den Anderen sofort zu fesseln und bei der Stange zu halten. Es gibt einen Nutzer – man stolpert hin und wieder mal über ihn oder seine Nachahmer – der in Sekunden eine Zeichnung seines Gegenüber anfertigt. Es gibt Musiker an buchstäblich jeder Art von Instrument, von Zeit zu Zeit sogar komplette Bands, die für den Anderen vor der Webcam agieren: Ein Wohnzimmerkonzert über den Atlantik hinweg. Der Next-Button generiert tausendfach kreative und ungewöhnliche Strategien, die nur dem einen Zweck dienen, den Anderen davon abzuhalten, ihn zu benutzen. Ähnlich gilt das auch bei Facebook: Man will eben nicht zu einem beliebigen Teil des Nachrichtenstreams seiner Freunde werden. Es ist die Suche nach zumindest einem User, der den „Gefällt mir“-Button klickt, zumindest einem, der nicht den „Next“-Button klickt.

Anders ausgedrückt: Diese Selbstinszenierung ist auch ein Marktmechanismus. Das Netz ist eine endlose Überforderung von parallelen Streams, es gibt immer ein Nächstes. Und noch eines. Und noch eines. Die Kunst ist, den Anderen das Nächste vergessen zu lassen. Diesen Mechanismus zu finden, der den Anderen für eine Zeit lang innehalten lässt, ist der Heilige Gral des Internets. Gewonnen hat eigentlich schon, wer das nur für eine Minute schafft. Das gilt für gestandene Nachrichtenredaktionen genauso wie es für Inhaber von Katzenblogs gilt. Gewonnen hat, wer den Anderen dazu bringt, sich eben nicht das Nächste anzuschauen, sondern diesen Artikel, diesen Post, diesen Teil des Streams. Wer Aufmerksamkeit will, braucht Strategien, sie zu generieren. Und je größer das Angebot ist, desto ausgefeilter müssen diese Strategien sein.

Anonymität ist out

Die Anonymität und das Spiel mit Identitäten im Netz sind in letzter Zeit aus der Mode gekommen. Wer durch die Ruinen der einstmals blühenden Zivilisation von Second Life wandert, bekommt einen guten Eindruck davon. Auf keiner der aktuellen Social-Networking-Seiten wird mit Pseudonymen gearbeitet, im Gegenteil, der richtige Name ist ja gerade erforderlich, wenn man auffindbar sein will. Facebook ist das genaue Gegenteil von Anonymität. Man legt sich selbst dort möglichst genau an, man ist tausendfach gespeichert und verlinkt. Und die Anderen, diejenigen auf der Freundesliste, machen mit. Was eben genau der Grund ist, weshalb Facebook nicht von masturbierenden Armeen niedergerannt wird. Der nächste Mensch, den ich wirklich kenne, ist nie weit entfernt. Jeder kennt die Geschichte von dem, der seinen Chef anrief, und sagte, er sei krank, und danach die Fotos von der gestrigen Tour durch die Kneipen hochlud. Und dabei vergaß, dass sein Chef auch gleichzeitig einer seiner Facebook-Freunde war. Wegen des Spiels mit Anonymität ist Chatroulette in den Medien auch als das „Anti-Facebook“ bezeichnet worden. Das ist nicht weit genug gedacht. Natürlich, niemand gibt bei Chatroulette Informationen über sich Preis, jedenfalls nicht so, wie bei Facebook. Keiner der Partner kennt den Namen des Anderen, seinen Standort, seine Meinungen, was er mag und nicht mag. Es gibt nichts als das Kamerabild des Anderen. Privater als das kann man kaum noch werden. Denn diejenigen, die dem Anderen eine Sekundenperformanz bieten, und diejenigen, die ihren Penis vorzeigen, das sind bei Chatroulette die Ausnahmen, das sind die Extreme. An denen kann man zwar gut erklären, zu welchen Höhen oder Tiefen diese Zufallskamerabekanntschaften animieren können. Meistens aber ist der Andere jemand, der den Kopf geneigt hat oder in die Hände stützt und dabei gelangweilt in die Kamera schaut. Der an seinem Schreibtisch sitzt, oder in seinem Wohnzimmer, manchmal auch im Bett liegt. Der, mit anderen Worten, zuhause ist.

Das private Molekül des Anderen

Facebook ist eher textbasiert, damit abstrakter, kontrollierbarer. Chatroulette erlaubt den unverstellten Blick ins Gesicht eines Fremden, in seine Wohnung. Die Bewertungsmechanismen funktionieren genau wie bei jemandem, der sich ungefragt im Café mit an den Tisch setzt. In Sekundenschnelle prallen Menschen aufeinander, wird der Andere aufgrund spärlichster Informationen in eine Schublade gesteckt. Einerseits sind die Informationen für eine solche Einordnung bei Chatroulette geringer: Der Andere ist nicht komplett da, nur ein kleiner, verzerrter Webcam-Schnipsel, nur ein Molekül des Anderen. Andererseits gewährt er auch Einblick in seinen Wohnraum, oft tatsächlich in einen so privaten Raum wie das Schlafzimmer. Das Problem ist, dass sich Intimität dabei schnell und sehr unmittelbar einstellt, Nähe aber nicht. Es ist, als wäre man bei einem völlig Fremden zu einem Gespräch eingeladen, während dieser gleichzeitig auch bei einem selbst eingeladen ist. Was wiederum bedeutet, dass beide sich bewegen wie in einer fremden Wohnung: Vorsichtig, weil sie nicht wissen, was erlaubt ist und was nicht, was sie anfassen dürfen und was nicht.

Das neueste Kolonisierungsprojekt

Auf jeder anderen Kommunikationsplattform, die im Internet gab und gibt, kommt man leichter mit Fremden ins Gespräch. Das ist vor allem eine Frage des Raums, in dem man sich begegnet: Ein ganz normaler Chatraum ist wie eine weiße Wand im öffentlichen Raum, die kollektiv beschrieben wird, und damit in Besitz genommen. Ein Raum wird erobert. Second Life funktionierte ähnlich, nur, dass der Raum nicht nur erobert werden konnte. Er konnte dauerhaft verändert und eingerichtet werden. Er konnte bewohnt werden. Ähnlich funktioniert Facebook, nur eben nicht anonym. Hier wohnen keinen Avatare, sondern echte Menschen. Sie verlängern ihren Wohnraum ins Netz hinein, sie richten sich richtigehend ein: Sie tapezieren ihr Profil, sie hängen Fotos auf, sie bauen einen Plattenschrank. Das eigenartige, und einzigartige an Chatroulette ist, dass es keinen Raum baut, der vom User zu kolonisieren wäre. Im Gegenteil, Chatroulette schafft diesen Raum konsequent ab. Bei Chatroulette wird nicht das Netz bewohnt, sondern der Wohnraum dahinter, und Chatroulette verbindet nur. Chatroulette erweitert nicht den Wohnraum ins Netz, es erweitert das Netz in den Wohnraum.

Das Netz ist von jeher ein Medium des Nebensächlichen gewesen, ein Medium unter der totalen Herrschaft des Nächsten, das ja immer schon da ist. Als schnelllebigstes Medium kann es nicht anders. Das geht sogar soweit, dass das Unwichtige mit dem wichtigen Tür an Tür wohnt, so dicht, dass es keine Unterschiede gib. Das Medium verwandelt seinen Inhalt, nicht der Inhalt das Medium. Im Netz wird alles zur Randnotiz. Wenn nun über die Belanglosigkeit beispielsweise von Twitter-Posts oder dem Facebook-Status gemäkelt wird, vergessen die Mäkler gern, dass genau das ein Symptom des Mediums ist. Genausogut könnte man man kritisieren, dass es im Radio keine Bilder gibt. Über Belanglosigkeit einzelner Posts im Netz zu mäkeln, ist auch und vor allem sinnlos, weil es den ganzen Rest ausblendet: Dass das Internet ein Medium des Nebensächlichen ist, hat auch und vor allem damit zu tun, dass es ein Archivierungsmedium ist. Es geht nicht um den einzelnen Post, es geht um das riesige Projekt alles, aber auch wirklich alles, zu archivieren, diesen unendlichen leeren Platz, der zur Verfügung steht, mit Information anzufüllen. Das Netz ist das neueste große Kolonierungsprojekt der Menschheit.

Keine Vergangenheit

Der Next-Button bei Chatroulette ist eines nicht: Ein Back-Button. Selbst die frühesten Chaträume, selbst die ältesten Newsgroups haben eine Vergangenheit, wenigstens insofern, dass beim aktuellen Chat immer zu dessen Anfang zurückgescrollt werden konnte. Chatroulette kennt kein zurück: Wenn der Andere weg ist, ist er weg. Es gibt keine Timeline wie bei Facebook, es gibt keine Chathistory, mit Hilfe derer man noch einmal an den Anfang zurückkehren könnte. Was in der Natur der Konstruktion von Chatroulette liegt. Es gibt ja keinen Raum, in dem irgendetwas archiviert werden könnte. Man muss das noch einmal betonen: Chatroulette eliminiert die Vergangenheit. Chatroulette hat keinen Raum, es verbindet nur Räume. Alle anderen Kommunikationsplattformen im Internet erweitern den verfügbaren Raum auf irgendeine Weise, und bieten irgendeine Art von Archiv. Chatroulette arbeitet einerseits dem Medium Internet zu, in dem es die Gegenwart und das Nächste zu den einzig gültigen Zeiten erklärt. Andererseits arbeitet es gegen das Medium, indem es die Vergangenheit leugnet, und keinen neuen Raum schafft, der zur gemeinsamen Kolonisierung freigegeben wäre. Im Gegenteil: Es verengt den verfügbaren Raum – für beide Beteiligten – auf einen kleinen, verpixelten Kameraauschnitt, der immer schon vom Anderen besetzt ist.

Und was kommt dann?

Wie geht es weiter? Natürlich lässt sich das nicht sagen, etwas anderes zu behaupten wäre nichts als die übliche prophetische Scharlatanerie selbsternannter Netzseher. Was sich allerdings sagen lässt, ist dass Chatroulette der vorläufige Höhepunkt einer schon jahrelang andauernden Verlagerung ist. Vor ein paar Jahren noch war das Internet hauptsächlich ein Archiv, einfach eine Ansammlung von Texten, Bildern und Videos, die auf unendlichem Raum verstaut wurden. Facebook, Twitter, und wie die ganzen Websites des Augenblicks heißen, haben damit begonnen, das Statische der Archivfuntkion zugunsten dynamischer Timelines aufzulösen. Das wiederum ergab eine Verlagerung von der Vergangenheit hin zur Gegenwart und zur Zukunft. Sie haben auch damit begonnen, das Netz als einen Teil des Wohnraumes zu begreifen, der eingerichtet und gepflegt werden muss, und damit eine Verlagerung von der Neutralität eines reinen Archivs hin zur Privatisierung des Netzes angestoßen. Gleichzeitig wird der Raum, auf dem tatsächlich agiert werden kann, immer kleiner. Obwohl das Netz theoretisch unendlich Platz bietet, ist die Zeichenzahl beschränkt, wird der Abstand zwischen den Posts immer kürzer. Chatroulette eliminiert die Vergangenheit restlos, schafft den Aktionsraum komplett ab und ist damit – vorläufig – die extremste Entwicklungsstufe eines jahrelangen Trends. Dass Chatroulette häufig abgetan wird als ein Spielzeug, in dem viel zu oft Penisse auftauchen, ist schade. Denn Penisse sind erst der Anfang.

Schrottmacher

Eines der Korthoff'schen Familienautos.
Bild von mir.
"Das urbane Wasteland am Rande der Stadt: Das ist das Setting, in dem die Familie Korthoff Tag für Tag, Woche für Woche ihre Stunshow "Dynamit auf Rädern" zeigt, manchmal sind es die Parkplätze von Supermärkten, manchmal von Baumärkten, der ein oder andere Volksfestplatz ist auch mal dabei. Der Tourplan liest sich wie ein Best-of der deutschen Provinzstädte, von denen man schon mal gehört hat, aber nicht genau weiß, wo sie liegen: Alfeld. Peine. Bielefeld. Hildesheim. Büren. Gudensberg. Wolfhagen. Dort bauen sie ihre „Arena“, auf, Arena, so nennt das Korthoff'sche Familienoberhaupt es: Ein rechteckiges Areal, gebaut aus Planen, die vom vielen Transport etwas schmuddelig sind, in den Farben der amerikanischen Flagge. Vorne, da, wo das Kassenhäuschen ist, stehen knallorangene Stellwände"
Mehr hier.


Ich mag monumentale Dinge,  ich mag Explosionen, ich mag es, wenn Sachen völlig sinnlos kaputt gehen. Nicht, das das krankhafte Ausmaße annähme, aber trotzdem: Es hat einen gewissen Reiz zu sehen, wie beispielsweise Autos zerlegt werden. Oder Gebäude gesprengt. Vielleicht ist das aber auch ein Charakterfehler.
Vor allem aber mag ich eine gut inszenierte Show. Und ich mag es, wenn ich eine leere Stelle ausfüllen kann, wenn ich beschreiben kann, was vorher noch nicht beschrieben worden ist, oder zumindest nicht adäquat, nicht in der Länge, die es verdient hätte.
Es gibt zwar eine Menge Artikel, die sich mit der Stuntshow "Dynamit auf Rädern" der Familie Korthoff [Vorsicht mit dem letzten Link, es gibt da Comic Sans in Neongrün] beschäftigen, aber das sind alles kurze, kleine Artikel, kaum mehr als Nacherzählungen von Action, die viel mit klischierten Wendungen wie "Action, Speed und Nervenkitzel" oder "Benzin im Blut" arbeiten. 

Für mich lag die Faszination, nach etwas Recherche, vor allem darin, wie viele dieser Familien mit Stunshows über die Supermarktparkplätze der deutschen Provinz touren, und wie altbacken, die eigenartig traditionell diese Vorstellung von einer fahrenden Schaustellerfamilie ist - und wie diese Idee aber gleichzeitig versucht wird, in etwas neuere Zeiten zu überführen, wie versucht wird, die Show zeitgemäß zu machen.

Gleichzeitig faszinierte mich, wie langsam und bedächtig diese Show, die eigentlich Schnelligkeit versprach, dann am Ende inszeniert war. Wie vorsichtig sie dann durchgeführt wurde. Ich hatte schnelle Schnitte erwartet, etwas ohne Atempause, ohne zu bedenken, dass Schnelligkeit wahrscheinlich eher bedeuten würde, dass die Fahrer in ihren Schrottautos zu Unfallopfern werden, und ohne zu bedenken, dass es auch schlicht ein - ziemlich großes, vom inszenatorischen Standpunkt her fast unlösbares - logistisches Problem ist, irrsinnig viele Autos auf begrenztem Platz so schnell wie möglich dorthin zu stellen, wo sie hingehören. 

Ich hätte den Artikel gerne länger gemacht, und ich hätte gerne mehr über diese Familie erfahren. Ich hätte gerne Wochen und Monate mit ihnen auf Tour verbracht - das ist tatsächlich auch noch ein Traumprojekt, etwas, das ich gerne machen möchte, und auch machen werde: Einfach mal irgendwo einzusteigen, wenn ich das nächste Mal dieses Schild sehe, auf dem steht: "Junger Mann zum Mitreisen gesucht."

Montag, 26. November 2012

Wütende Notizen


Ich bin kein wütender Mensch. Eigentlich.  Aber als ich Detlev Holland-Moritz' Buch "Promoter" zur Rezension in die Finger bekam (oder, um genauer zu sein: die Druckfahnen davon, die der Verlag mir zuschickte), ging es ein wenig mit mir durch. 
Zum Einen, weil das Buch klingt, als hätte es ein verwirrter taz-Redakteur geschrieben, der seit 1985 weder den Fernseher noch das Radio angemacht hat, weil er die Welt da draußen und diese ständige Überreizung nicht mehr erträgt.
Zum Anderen, weil es ein böses und arrogantes Buch ist, das keine Meinung zulässt außer seiner eigenen. Und versucht, seine Deutungshoheit mit stilistischen Avantgardespielchen aus den frühen 90ern zu rechtfertigen. 
Ich las die Druckfahne auf mehreren Zugfahrten, und kritzelte den Rand mit wütenden Bemerkungen voll. Für meine Besprechung des Buches auf WDR3, die Sendung hieß "Gutenbergs Welt",  und lief im Juli 2011, fasste ich die am wenigsten bösen Randkritzeleien zu einem Beitrag zusammen. Ich würde die Sendung hier gerne verlinken, aber leider steht sie nicht mehr online. Das Thema war, wenn ich mich richtig erinnere, "Schweifen, streunen, sich verlieren."

Es ist möglich, dass die Besprechung ein wenig unfair ist. Und genauso arrogant wie das Buch. Aber andererseits: Purer Affekt. Passiert mir auch nicht so oft.




Notizen, an die Druckfahne von Detlev Holland-Moritz' „Promoter“ gekritzelt


Manchmal muss man die Axt nehmen.
Bild von hier.
Detlev Holland-Moritz liebt Patti Smith: In einer der klarsten, verständlichsten Passagen in seinem Buch „Promoter“ ist er auf einem ihrer Konzerte, steht mit den anderen Mittfünfzigern vor irgendeiner Berliner Waldbühne, und findet alles ganz großartig. Die Szene ist in der Mitte des Buches, aber in welcher Reihenfolge man die losen Notizen liest, ist sowieso egal.

Holland-Moritz liebt auch Adorno: Der Bruch, dieser Konflikt, der hier versucht wird, mit einem irrsinnigen Mix zu lösen: Das wäre passiert, wenn man Adorno gezeigt hätte, wie ein DJ-Pult funktioniert: Es gibt keine Themen, keinen Beat. Da wird gegen den Strich gemixt, als wäre anything goes nicht schon längst nach hinten losgegangen. Was nützt der klügste Mix, wenn er nur Kunst und kein Tanz ist?

Lokal begrenzt


Itzum ist ein der eigentilchen Stadt vorgelagerter Stadtteil von Hildesheim, wo ich ja nun einmal wohne. Und es sollte einmal ein Buch geben, in dem sich kurze Texte mit der Geschichte von Itzum auseinandersetzen - ein schönes, kleines, lokal begrenztes Buchprojekt, eine kleine, feine Analyse einer schizophren-ländlichen Gegend. Leider hat das Buch nie das Licht der Welt erblickt. Daher jetzt hier: Wie ich einmal heldenhaft über Land wanderte.





Itzum im Abendlicht
Eine Entdeckungsreise


Weil es da draußen noch Romantik gibt.
Bild von mir.
Jahrelang habe ich die Busverbindungen verflucht, die mich immer wieder dazu gezwungen haben durch Itzum zu laufen. Jahrelang bin ich zwischen den Vorgärten, Spielplätzen, Menschen herumgelaufen und wollte nur eines: Möglichst schnell wieder weg. Jahrelang habe an Itzum vorbeigelebt, obwohl ich fast täglich dort war. Jahrelang habe ich einen ganzen Stadtteil nicht gesehen.

Am Ende rufe ich M. an, und schreie – wegen der schlechten Verbindung, aber auch völlig euphorisiert – ins Telefon: „Es ist so schön hier! Ich wusste das gar nicht, es ist so schön hier!“  Die Sonne geht unter. Ich war den ganzen Tag in Itzum. Ich habe einen Sonnenbrand auf der Stirn. Vielleicht liegt es am Himmel, an den Pflanzen, am Frühling: Das macht fast blödsinnig glücklich. Und am flachen Land, das beruhigt den Kopf. 

Unter Hildesheimer Studenten bedeutet es den sozialen Tod, in Itzum zu leben: Kein Mensch will da abends noch hinfahren, in einer Stadt, in der sich alles andere innerhalb einer Viertelstunde zu Fuß erreichen lässt.  Und zurück geht’s sowieso nicht, nicht nach zehn Uhr abends jedenfalls, und da gehen die meisten erst los. Wer sich dafür entscheidet, in Itzum zu wohnen, der muss sich von vielen Freunden verabschieden, zumindest aber davon, abends nochmal spontan irgendwo hinzugehen. 

Schlafen ist Tod

So ist das mit diesem Spiel. Bild von mir.

"Eva isst den Apfel nicht. Lessings Nathan der Weise hat keine Lust auf Drama und bittet einen Dschinn, ihn irgendwohin zu zaubern, wo es interessanter ist. Ein Schlangengott beschwört ein sprechendes Schnitzel, das daraufhin eine Mittagspause fordert. Das sind Geschichten, die das Spiel „Sleep Is Death“ erzählt – oder besser: erzählen lässt. Denn das neue Game von Jason Rohrer ist ein Werkzeug, mit dem die Spieler selbst Spiele erfinden können. Eine Art digitales Lagerfeuer."

Mehr hier.

Heute: Dinge, die so großartig sind, dass es schwer fällt, Worte darüber zu verlieren, ohne kitschtig zu klingen. Meine Besprechung von Jason Rohrers Spiel "Sleep is Death" für die GEE.

Nichts zu sehen


"Sagen wir, ich verbrachte aus Gründen, die eine massive Verschwurbelung von privat und beruflich waren, zwei Wochen in einem entkernten Haus, in einer Art Journalisten-Kommune. Das ich das hier erwähne ist kein Zufall (es ist nie Zufall, wenn es um Paul Auster geht, es verkleidet sich immer nur als Zufall)."
Mehr hier


Manche meiner Rezensionen sind Rezensionen. Manche sind - so nenne ich das - Rezeptionsreportagen. Diese - von Paul Austers Roman "Unsichtbar" - ist eine davon.

Fußschmerzen


Die Geschichte, wie ich Andreas Altmann kennen und schätzen lernte, ist eine lange Geschichte, und außerdem eine, die mich in gutem Licht da stehen lässt, deshalb erzähle ich sie nicht. Würde ich sie erzählen, wäre der erste Satz: Ich traf Andreas Altmann auf Sansibar. Das ist zwar gelogen, weil es eigentlich der Flughafen von Amsterdam war, aber Sansibar klingt besser, und stimmt auch größtenteils. Jedenfalls tranken wir zusammen ein Bier auf der Terasse eines Hauses, das in der Nähe von Freddy Mercurys Geburtshaus lag, das will doch auch was heißen.

Tatsächlich liegt dieses Interview an einem Knotenpunkt verschiedener, wichtiger und schöner Ereignisse in meinem Leben: Zum einen dieser Reise nach Kenia und Tanzania, und zum anderen der Wanderung nach Bordeaux


Später kam dann für die Non Fiktion ein Interview mit Andreas Altmann über das Laufen und Schreiben zustande, das er in seiner typisch knurrigen Art absolvierte. Mit freundlicher Unterstützung von Stefan Mesch, übrigens. 






"Die Füße tun schon vorher weh." 

Andreas Altmann. Reporter. Unterwegs zu Fuß.



Nairobi, nach einem langen Flug.
Links: Andreas Altmann. 
Mitte: Ich. Foto: Privat.
Hätte Andreas Altmann sich nicht „den biographischen Schmus“ verbeten, stünde hier die Geschichte von einem, der eher zufällig in sein Leben als Reisereporter gerutscht ist, damit beachtliche Preise und Reputation eingesammelt hat. „Ich bin der AA“, mailt er aus einem Kloster in Indien, „und wenn einer mehr über mich wissen will, nach dem Lesen des Interviews, dann soll er im Netz nachschauen und den Blödsinn glauben und auswendig lernen.“ Preise und Reputation, das ist nicht, worum es Altmann geht. Was er eigentlich sammelt – und das schon fast fanatisch - sind Geschichten: Geschichten von sich selbst, und die Geschichten von Fremden, von Menschen überall auf der Welt. Für die Reportage „33 Tage – 34 Nächte“ ist er von Paris nach Berlin gelaufen - ohne Geld und mit vielen Unwegsamkeiten. 

Um zwei Dinge bittet Altmann noch: Es soll auf seine Internetseite und auf sein neues Buch hingewiesen werden. Also: Die Webadresse ist www.andreas-altmann.com, und das neue Buch ist eine Sammlung kleinerer Reportagen und heißt „Sucht nach Leben. Geschichten von unterwegs“ Erscheinen wird es im Frühjahr 2008 im Dumont Verlag.



Hundeleben

Roms Geburt. Bild von hier

"Romolus und Remus ließen sich säugen an den Zitzen einer Wölfin, und bauten dann mal eben Rom, aber Romoschkas Moskau ist schon gebaut, und besonders hübsch ist es nicht. Wenigstens nicht am Rand, da, wo die verfallenen Hochhäuser zwischen den Müllbergen stehen, an denen die Obdachlosen leben. Der vierjährige Romoschka lebt da, oder besser: lebte." 
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Eine der schönsten Rezensionen, die ich fürs Titel-Magazin geschrieben habe, aber das ist nur meine persönliche Meinung. Zumindest aber ein wunderbares Buch. Es geht um "Dog Boy" von Eva Hornung.

Faust


"In diesen Momenten, kurz vor dem Einschlafen ertappt man sich bei der Frage, wie wohl ein Faustkampf zwischen Bret Easton Ellis und Chuck Palahniuk aussähe. Ellis würde tänzeln, ausweichen und von langer Hand einen wirklich schlimmen Kinnhaken vorbereiten, während Palahniuks harte, kurze Schläge ununterbrochen auf ihn einknallen."
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Eine Rezension von Chuck Palahniuks Roman "Fratze". Nicht mehr, nicht weniger.

Schrödinger


Zugegeben, ich hatte Mist gebaut. Der Artikel sollte eigentlich ein Interview werden, mit  Benjamin von Stuckrad-Barre über seine neue Arbeit bei der B.Z.,  und ich hatte dafür eine gute Zeit erwischt: Herr von Stuckrad-Barre hatte gerade ein neues Buch herausgebracht, und war deshalb Interviewanfragen durchaus aufgeschlossen. Er hat mich sogar angerufen, und wir verabredeten ein Email-Interview. Und über den Rest möchte ich lieber nicht reden. Sagen wir nur: Meine Fragen waren so... dilletantisch, dass er eine mehr oder weniger böse Antwort schrieb, und sich weigerte, sie zu beantworten. Nun hatte ich aber eine Deadline, und musste mir für diese Ausgabe der "Non Fiktion" also etwas aus den Fingern saugen. Dies ist das Saugergebnis.



Aus Schrödingers Zylinder gezaubert
Anmerkunden zu Benjamin von Stuckrad-Barres Boulevard-Reportagen

„Wenn Chuck Norris ins Wasser geht, wird nicht Chuck Norris nass, sondern das Wasser wird Chuck Norris“
(altes Sprichwort)



Da steckt was drin. Bild von hier.
Benjamin von Stuckrad-Barre gibt es nicht. Wer ihn bei der B.Z., der größten und wichtigsten Boulevard-Zeitung Berlins, erreichen will, telefoniert zuerst mit einer freundlichen Sekretärin, aber die hat den Namen noch nie gehört. Doch, doch, versichert man, der Name steht ja im Blatt immer über den Texten, und man selbst könne ihn gar nicht verwechseln, sagt man, man selbst komme aus dem Literaturbetrieb und da sei Stuckrad-Barre eine wirklich große Nummer, kein Kapitel, kein Buch, das jemals über deutsche Popliteratur geschrieben werden wird, könne auf seinen Namen und seine Texte verzichten. So, sagt die Sekretärin. Und: Da soll man dann mal die Telefonnummer hinterlassen, sagt die Sekretärin. Gegebenenfalls riefe jemand zurück. 
Auch wenn ihn im Vorzimmer niemand kennen will – Stuckrad-Barre war zu Arbeitsbeginn bei Springer in aller Munde. „Er ist ein Flaneur im alten Sinne, doch ohne jede Blasiertheit“, feierte ihn Thomas Schmid, Chefredakteur der Welt. Und: „Er setzt damit die Tradition des literarisch funkelnden Boulevards in Berlin fort“, historisierte Walter Mayer, Chefredakteur der B.Z.
 „Kleines Berliner Schmuddelkind“, so nannte der BildBlog einmal die B.Z. „Berliner Pittbullblatt“, so nannte Stuckrad-Barre sie selbst, in "Boulevardjournalismus", einem Text der in "Deutsches Theater" erschienen ist. Hier geht es um Franz-Josef Wagner, den Kolumnisten von "Bild", der Tag für Tag in knappster Form seine grobe Sentimentalität mit lustvollem Zynismus ohne Rücksicht auf Menschlichkeiten und Moralitäten zum Besten gibt. "Boulevardjournalismus" endet mit einer Abrechnung dieser Schreibweise, die für Stuckrad-Barre die Boulevard-Schreibweise schlechthin ist. „Wenn ein Mensch in Deutschland das Recht auf faire journalistische Behandlung verwirkt hat“, heißt es da im Franz-Josef Wagner-Jargon, „dann du, lieber FJW. Ganz herzlich, wirklich.“  

Verdammt


"Wir halten die Stellung: Ringfinger der linken Hand auf Ctrl, Zeigefinger auf Space, Zeige-, Mittel- und Ringfinger der rechten Hand auf die Pfeiltasten, aber immer schön locker bleiben im Zeigefinger: Nichts hilft so gut gegen die Feuerkugeln der Imps wie mit der Punkt- oder der Kommataste nach rechts oder links wegzustrafen. So schnell, wie der Doom-Fingersatz wiederkommt, so unbewusst durchlaufe ich die ersten paar Level: Nicht ich bin es, der da spielt, es ist mein Körpergedächtnis."

Mehr hier (Teil eins der zweiteiligen Reportage) und hier (Teil zwei).


Bild von hier
Was soll ich sagen? Ich war schon immer ein Fan der Doom-Reihe, nicht nur, weil das das Spiel der Wahl im Freundeskreis war. Später dann auch und vor allem wegen der hanbüchenen, offensichtlich bekloppten Sci-Fi-Horror Story, und wegen dem leicht anarchischen Touch der Spiele. 

Die Aufgabe in dieser Reportage war es, alle drei Teile möglichst schnell durchzuspielen, gleichzeitig aber ist die Reportage auch ein erster Versuch einer Rezenszionsform, von der ich mir wünsche, dass es sie öfter gäbe: Keine scheinbar objektive Bewertung, sondern einer Art Rezeptionsreportage, etwas, das zumindest in der Spielkritik, aber auch in anderen Kritikformen, eine Menge Sinn machen würde: Keine Bewertung, sondern ein Reisebericht rein in die Welt des Produktes, das da besprochen wird. Eine Mischung aus Short Story, Erlebnisbericht und Kritik.

Kochen

Jonte in der Küche. Bild von mir.

 "Ich bekomme eine weiße Kochjacke mit Knöpfen, die, erklärt mir Sebastian, dafür da sind, mit einem Ruck aufgerissen zu werden, falls sie anfängt zu brennen. Das Radio läuft: Enjoy. Das Erste, was ich tue, ist, die Knochen eines Huhns zu entfernen in mühevoller Kleinarbeit, von der Unterseite muss ich es aufschneiden, hin zur Brust, den Flügeln, den Schenkeln, so, dass das Fleisch nicht beschädigt wird, so, dass das Huhn in einem Stück bleibt. Bloß nichts kaputt machen."
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Ich koche gerne, und, wenn man den Menschen glauben will, für die ich koche, koche ich manchmal auch gut. Und deshalb war die Reportage über den Koch Jonte Schmatzler, mit dem ich eine Woche als Lehrling in der Küche verbrachte ganz wunderbar, auch wenn die Arbeitszeiten teilweise schlimmer waren als das, was ich so gewohnt bin.
Aber: Ich habe ein paar neue Tricks gelernt, ich habe ein paar Gerichte mit nach Hause genommen, die ich hin und wieder immer noch koche, wenn ich die Zeit dafür habe. Oder anders gesagt: Würde ich nicht tun, was ich tue, ich wäre Koch.


Blauer Himmel


Capote, Foto von Carl van Vechten. Quelle.
"Als ich aufstehe und zahle, hat dann der Harfist sich auf  'Für Elise' eingeschossen, und der Himmel über der Stadt hat dasselbe Blau wie der Umschlag des Buches."
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Ich habe Truman Capote schon immer bewundert - gar nicht so sehr diese eigenartige, komplexbeladene Glam-Prosa, die ein größter Teil seines Werkes ist (obwohl die auch, selbstverständlich, in allen Ecken strahlt und leuchtet, aber es ist immer alles ein bisschen schmierig), eher seine Reportagen, die oft kleine, ruhige Skizzen sind, skalpellfein beobachtete Kurztexte, so gut, dass man das alles fast anfassen kann. Was dann natürlich in "Kaltblütig" gipfelte, aber wem erzähle ich das.

Spielen mit Geschlecht


Im März 2008 war ich Teil der Festivalzeitungsredaktion des Theaterfestivals Körber Studio junge Regie, und mal abgesehen von Diskussionen mit einer Masse dieser m.E. immer eher merkwürdigen Theatermenschen darüber, wozu nun eigentlich Theaterkritik gut sei, war es eine gute Woche voller Festivalzeitungswahnsinn und keinem Schlaf. Ich habe dafür eine Reportage geschrieben, und mich zwei der vielen Regisseurinnen des in dem Jahr zweitplatzierten Stücks "Bodycheck" in Hamburg getroffen. Es ging um Geschlechterbilder, und wir wanderten über die Reeperbahn. Der erste Satz dieser Reportage ist einer meiner besten, finde ich nach wie vor.



Spielen mit Geschlecht

Mit Bodycheck auf der Reeperbahn



Geschlechtsteil. Bild von hier
Von der "Ritze" gehen wir Richtung Große Freiheit. Grauer Nachmittag über der Reeperbahn, Melanie Hinz kennt hier irgendwo ein Café, erzählt aber erstmal von Riesendildos. „So ein Durchmesser.“
Sie hält die Hände 10 Zentimeter auseinander. Kein privates Interesse, erklärt sie, Recherche, für ein neues Theaterprojekt, auf Kampnagel, über Rausch und Befriedigung. Melanies Tick ist, ihre mittellangen, dunklen Haare hinters Ohr zurückzustreichen, aber dafür sind sie nicht lang genug. 
„Alleine“, hat Melanie am Telefon gesagt, „sollten wir uns nicht treffen.“ 
Sinje Kuhn ist also mit dabei, und so sitzen wir im Café Roosen in der „Rauchergrotte“ – so nennt es der Wirt – auf einem leicht verwesten Sofa. Das Roosen ist ein Kiezcafé, wie man es findet, wenn man von der Reeperbahn eine Weile mit dem Neonlicht im Rücken geht: Schummrig, von den Wänden bröckelt immer mal was ab und das Sofa ist gemütlich, wenn man nicht darüber nachdenkt. 

Drogen


"Wir sind auf der Suche nach etwas Großem. Es muss hier etwas Großes geben. Wir sind vorsichtig optimistisch. Das kälteste Ostern seit Beginn der Temperaturaufzeichnungen, und der Weg zum mynt ist weit. Wir machen Pausen, lassen uns reinfallen in das, was diese Stadt sonst noch zu bieten hat."
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An einem Ostern machten der Kollege Marcel Maas und ich uns auf, nach dem großen Traum, nach dem pulsierenden Herz der deutschen Provinz zu suchen. Wir hatten keine Zeit, also nahmen wir uns nur einen Abend, und Drogen dazu. Das Ergebnis in dieser wunderbaren, verlinkten Reportage.

Mixtape (II)


"Es ist nun also das Pro­blem, dass jeder Text über ein Mixt­ape, ge­ne­rell ge­spro­chen viel­leicht jeder Text über Musik, der Musik nichts hin­zu­fü­gen kann, son­dern nur den Blick ver­en­gen kann"
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Rohmaterial. Bild von hier.
Ich erwähnte ja schonmal, dass ich ein großer Freund von Mixtapes bin, von der ganzen Romantik der Sache, vom sorgfältigen, tagelangen Arrangieren der Songs, von dem Lächeln auf den Gesichtern der Menschen, die meine Tapes dann bekommen.

Für das, wie auch schon einmal erwähnt, wunderbar versponnenen Online-Magazin Subpool schrieb längere Zeit eine monatliche Mixtape-Kolumne, begleitet von einem Mixtape jeweils für eine Person des öffentlichen Lebens, von der ich dachte, sie könne eines gebrauchen: Mark Zuckerberg ist genauso dabei wie somalische Piraten. Und: Die Tapes kann man dann dort auch anhören, soweit jedenfalls, wie die GEMA einen lässt. Also doch schon ein gutes Stück.