Ich bin im April - nach langen, schönen Jahren in einer WG, in der so viel Geschichte passiert ist, dass es für ein ganzes Leben reicht - umgezogen. Ich verbrachte damals die letzte Nacht in meinem alten Zimmer mit zwei Dosen Bier und drei Zigaretten, zwischen meinen Kartons auf einer Matratze. Ich roch noch die frische Farbe an den Wänden, und dachte an alles, was ich in dem Zimmer erlebt hatte. Und daran, was ich in der neuen Wohnung vielleicht so alles erleben würde. Meine übliche Wehmütigkeit, wenn ich einen Ort verlasse und irgendwo anders ankomme, wo ich es noch nicht so gut kenne.
Dazu kam, dass ich in das Viertel zog, in dem meine Großeltern den 2. Weltkrieg verbracht hatten, und wahrscheinlich sogar beim selben Metzger das erste Grillfleisch des Jahres kaufte. Das fühlte sich eigenartig an, wie Erzählstränge, die plötzlich zusammengeführt wurden, obwohl es eigentlich noch keine Zeit dafür war. Vielleicht auch nur Zufall.
Nachdem jedenfalls das ganze Umzugschaos bewältigt war, dachte ich, ich schreibe einen kleinen Essay, der da alles würdigt und irgendwie zusammenführt.
Ich schrieb den Essay, und dann lag er ein paar Monate lang auf meiner Festplatte rum.
All die überblitzen
Kleinigkeiten
Straße ohne Bahn. Bild von mir. |
10 Jahre. Ich könnte jedes Foto
beschreiben, auswendig, aber das muss ich nicht. Wir haben sie an
den Schränken aufgehängt, weil sie eine hässliche
Farbe haben. Wir haben sie aufgehängt, weil wir uns gerne
erinnern wollten. Sie baumeln zehn Zentimeter vor meinem
Gesicht, während wir die Schränke runtertragen. Wir
stellen sie alle an den Straßenrand. Eine Schrankwand nach der
anderen.
Sperrmülltag.
An der Straßenbahnhaltestelle sitzt
eine Frau, ich weiß nicht, ob sie lacht oder weint. Auf jeden Fall
ist es laut, alle hören es, keiner sieht hin, wie man das mit Irren
eben macht. Sie trägt eine lilane Barettmütze mit
weißen Applikationen, überhaupt auch sehr viel lila an der
Jacke, überall. Es ist noch ein bisschen kalt, es regnet, der
Frühling versteckt sich noch kurz außer Reichweite. Ich mag das Geräusch der Straßenbahn,
wie sie metallisch über die Schienen gleitet, dieses Klingeln,
das klingt, als hätte es vor hundert Jahren schon so geklungen,
damals, als noch niemand daran dachte, dass der
Stadtteil zerbombt werden könnte, oder voller junger Familien
und Bioläden sein. Es werden nicht die selben Straßenbahnen
sein, aber vielleicht hatten sie einen Soundingenieur, der
das Klingeln von damals rekonstruieren musste, der nächtelang
daran gesessen hat, der historische Quellen ausgewertet
hat, der dann schließlich, irgendwann frühmorgens in sein Studio
gegangen ist, und als nach einer langen Nacht die Sonne
aufging, hatte er es: Das perfekte Straßenbahnklingen.
Vielleicht ist es so exakt konstruiert. Vielleicht ist das aber
auch nur Zufall. Wer weiß. Die Lachweinfrau steigt mit mir ein.
Drinnen macht sie keine Geräusche mehr. Sie hört einfach auf,
und steigt eine Station später wieder aus. Ich schaue ihr
nach, sie rückt sich ihre Mütze zurecht.
Da lang. Bild von mir. |
Drei, vier unausgepackte Kartons stehen
noch in der neuen Wohnung, ich habe noch keinen Platz für
das, was drin ist. Ich bohre fast jeden Tag ein Loch in die
Wand, um irgendetwas anzubringen. Mein Vater hat immer noch
eine Narbe, die ihm einmal eine der Straßen hier gerissen
hat. Er war sieben oder acht, vielleicht, und ist den örtlichen
Berg mit seinem Dreirad runtergefahren. Auf dem Berg, habe ich
gelesen, blühen im Frühling immer Blumen, Blaustern,
heißen sie, dann stehen da Buden, es gibt Bier und Würstchen, und
die Menschen schauen sich die blauen Blumen an. Mein Vater
musste ins Krankenhaus, so und so viele Stiche.
Ich weiß, dass es die Narbe gibt, ich habe sie gesehen. Meine
Großmutter sagt, deswegen hätte er seine ganzes Leben
lang Angst vor Krankenhäusern gehabt.
Meine Großmutter kommt mich manchmal
besuchen. Es ist schwer für sie, die Treppen hoch zu
kommen, sie hat ein Knieproblem, und muss sich langsam,
Stück für Stück am Treppengeländer hochziehen, und sie
ist außer Atem, wenn sie oben ist. Sie ist gerne hier, sagt sie,
und weiß, was das für ein Baum ist, der im Innenhof steht. Sie
erzählt Geschichten von früher, als sie hier noch wohnte.
Nicht hier, nicht in meiner Wohnung, aber nicht weit: Einmal über
die Straße, auf der die Straßenbahn fährt. Nicht weit von
hier hat sie meinen Großvater kennengelernt. Nicht weit
von hier steht der Bunker, in dem sie den Krieg verbracht hat. Sie
sagt, sie musste über Leichen steigen, um danach wieder nach
Hause zu kommen.
Tagsüber scheint jetzt manchmal die
Sonne, nicht oft, und manchmal ist es so warm, dass man ohne
hochgezogene Schultern vor die Tür gehen kann, sich
nicht den Rücken verspannt. Die Mütter mit ihren
Kindern gehen dann raus, nicht weit von meiner Wohnung ist ein
Spielplatz. Ich gehe zum Einkaufen da entlang. Oder wenn ich
mich von meiner Großmutter zum Essen einladen lasse.
Als dein Vater hier noch gespielt hat,
sagt sie, war das noch kein Spielplatz. Nur ein Platz.
Der Weg zum Spielplatz führt an
Wohnungen vorbei, neue Wohnungen, nicht die Altbauten, die
hier sonst stehen.
Als die gebaut wurden, sagt meine
Großmutter, wollten alle hier hinziehen.
Ich muss langsam laufen, immer wieder
anhalten, manchmal muss sie sich auf ihren Rollator
setzen. Weiter hinten, man kann es von hier noch sehen, stehen
Hochhäuser auf einer Halbinsel, groß wie ein eigenes
Stadtviertel.
In den 70ern, sagt meine Großmutter,
haben alle davon geträumt, dort zu wohnen.
Maschinen ohne Bahn. Bild von mir. |
Ich mag das Geräusch der Straßenbahn,
wie sie metallisch über die Schienen gleitet. Ich mag es, wenn
sie klingelt. Ich mag es nicht, wenn ich aussteigen muss, mich
durch die Menschen wühlen, die auch alle aussteigen
wollen. Oder im Weg stehen. Ich mag es nicht, wenn ich die steilen
Treppen runtersteigen muss, mich orientieren muss, mich
fragen muss in welche Richtung es jetzt geht. Wenn ich
könnte, ich würde den ganzen Tag nur Straßenbahn fahren. Ich
steige aus, ich laufe zum Bahnhof, über den Bahnhofsplatz,
ich und alle anderen, eine Masse Menschen, die sich bewegen,
in - es fällt mir immer noch schwer, das zu sagen -
meiner Stadt. Irgendwo spielt jemand Musik, ich höre Djembes,
und einen Dudelsack. Es ist nicht weit von meiner neuen
Stadt in meine alte Stadt. Eine halbe Stunde mit dem Zug. Heute
ist Sperrmülltag. Ich habe versprochen, alles, was ich nicht
mehr brauche, den ganzen Kram, den ich in den letzten
Jahren abgestellt habe, aus dem Keller zu räumen.
Ich sitze manchmal auf meinem neuen
Balkon, und wundere mich, wie ruhig es ist, raus zum
Hinterhof, und schaue in die Fenster der Menschen gegenüber.
Zweimal am Tag steht gegenüber ein Mann mit Glatze und
raucht. Ein Fenster weiter höher klopfte einmal ein viel zu
dünnes Mädchen immer wieder an die Scheibe. Ich muss nur rausgehen, ein paar
Treppen runter, einen Schritt machen auf die andere Seite des Hauses,
und alles wird laut, und alle sind da, selbst jetzt schon,
an den ersten paar Frühlingstagen. Es gibt Weißwein da
draußen, und laute Musik, irgendwo läuft ein Fußballspiel, und
alle Menschen hier sind nachts ein Stück weit verlorene
Existenzen. Hier werden nachts keine Legenden geboren und sind noch in
derselben Nacht nie dagewesen, aber trinken können die
Menschen. Sich selbst feiern. Aber nach hinten raus ist es
ruhig, und die
Frühlingsluft ist nur ein bisschen zu
kühl für mich. Ich habe in der Zeitung gelesen, dass jemand nicht
weit von hier ein paar Schreiben eingeworfen hat, einer dieser
Bioläden, die hier überall wachsen. Früher war in dem
Gebäude etwas anderes, ich weiß nicht, was.
Genau. Bild von mir. |
In der neuen Stadt stehen die Irren auf
der Straße, die eine Frau mit der lilanen Mütze, die lacht
und gleichzeitig weint, eine die immer schreit, sie sähe einen
Indianer, und sich dann eine halbe Stunde lang mit ihm
unterhält. Die Irren in meiner alten Stadt haben einen anderen
Geschmack, bitterer, trauriger, verlorener: Sie stehen am
Bahnhof, und trinken Bier, sie lachen nicht, sie weinen nicht, sie
sehen keine Indianer. Sie taumeln manchmal, und manchmal schreien
sie sich gegenseitig an. Manchmal fährt in meiner neuen Stadt
ein Mann in Rollstuhl durch die Straße, er raucht Pfeife,
und es sieht aus, als sei er mit seinem Stuhl verwachsen, eine
Dampfmaschine, die der Straßenbahn in ihrem eigenen Rhythmus
hinterhertuckert.
Ich möchte keine Museumswärterin
sein, sagt meine ehemalige Mitbewohnerin, am anderen
Ende der Schrankwände, Ich möchte nicht immer
nur die Vergangenheit bewachen. Es muss auch mal weitergehen.
Ich versuche, die Schrankwände richtig
zu greifen, so dass sie mir auf der Treppe nicht aus den Händen
rutschen. In meiner alten Wohnung ist schon alles
umgeräumt. Die Schrankwände im Wohnzimmer sind auseinandergebaut.
Wir fegen dem Staub zusammen, der sich dahinter angesammelt
hat. Überall ist mehr Platz. Ich habe mein altes Zimmer
gestrichen, die Farbe ist ganz anders, und es riecht nicht
mehr nach mir. Die Fotos an den Schränken unten
flattern im Wind. Vier, fünf Stunden arbeiten wir. Der Sperrmüll
stapelt sich immer höher.
Kunst am Bau. Gebaute Kunst. Bild von mir. |
Im Sommer, wann? '42 vielleicht,
vielleicht auch später, auf jeden Fall im Sommer, steht meine
Großmutter – ein Mädchen damals noch, und eigentlich müsste sie
in der Schule sein - blinzelnd in der Tür des Bunkers.
Alles ist vorbei, die Luft riecht nach Rauch, nach Brand, nach
Schutt, vielleicht. Ich stelle mir einen blauen Sommerhimmel
vor, die Farbe ausgewaschener Jeans. Sie muss sich
erstmal an das helle Licht gewöhnen, und danach sieht sie:
Es gibt das ganze Viertel nicht mehr. Nachbarn, Freunde,
Häuser: Alles nur eine Schuttwolke. Manchmal, wenn sie ein
bisschen zu viel Sekt getrunken hat, erzählt sie von
verkohlten Menschen. Ein Freund erzählte mir, dass in dem
Bunker jetzt manchmal Fetish-Parties stattfinden. Es ist ein
Hochbunker, innen schraubt sich eine graue Wendeltreppe
die Betonwände hoch, dazwischen Galerien, von denen kleine
Zimmer abgehen. Wenn die Vorhänge offen sind, darf man
zuschauen. Meine Großmutter sagt, sie hätte ihr ganzes
Leben Angst vor dem Untergrund gehabt: Ubahnen. Tunnels.
Keller.
Das Mädchen läuft durch die Trümmer
nach Hause, und hofft, dass es noch steht. Das Mädchen läuft
und läuft, durch die Trümmerlandschaft, beides wird langsam
blasser, überlagert von den Häusern, die aus Trümmern
wieder hochwachsen, den Menschen, den Spielplätzen, von den
jungen Familien, den Kindern, den Bioläden, den Verrückten
und Betrunkenen, das alles wird immer solider, und
irgendwann läuft das verblassende Mädchen an der
Straßenbahnhaltestelle vorbei, immer weiter in ihr Leben hinein, dass
erst noch gelebt werden muss, aber ich sehe es nicht, niemand
sieht es, nur eine Frau, die anfängt zu lachen, oder vielleicht
auch zu weinen, oder beides. Niemand beachtet sie, wie man
das mit Irren eben macht.
Eine Stadt weiter flattern Fotos an
braunen Schrankwänden, während es anfängt zu regnen. Anfangs
perlt der Regen noch an ihnen ab, aber am Ende spült der
Frühlingsregen alle Farben weg. Heute ist Sperrmülltag.
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