Mittwoch, 3. Juli 2013

Vier Wochen Probeabo - Teil II: Rituale

Seit Jahren habe ich keine Print-Zeitung mehr gelesen. Jetzt habe ich mir ein kostenloses Probeabo bestellt. Eine Erkundung.

Zum ersten Teil geht es hier. 



Der Ritualsessel. Bild von mir.

Wenn ich an Printzeitungen denke, denke ich an Rituale. Schöne Rituale, die mir Freude gemacht haben. Ich setzte einen Kaffee auf, und stolperte jeden morgen die Treppe zum Briefkasten herunter, oft noch verschlafen, ein- oder zweimal im Bademantel. Ich stolperte, die Zeitung - die Süddeutsche - unter den Arm geklemmt wieder hoch, in der Küche war der Kaffee inzwischen fertig. Ich goß mir einen Kaffee ein, las immer zuerst die Schlagzeilen, dann das "Streiflicht" oben links, drehte ich den Politikteil um, las das, was dort unter der Überschrift "Aus aller Welt" so stand,  arbeitete mich von hinten weiter durch, blieb meistens an der Reportage auf Seite 3 noch etwas länger hängen, hatte dann schon meine erste Tasse Kaffee und die erste Morgenzigarette fertig. Ich legte den ersten Teil der Zeitung weg, schenkte mir einen neuen Kaffee ein, zündete eine neue Zigarette an, und begann mit dem Feuilleton. Freitags und Samstags las ich zwischen Politiktteil und Feuilleton das Magazin, beziehungsweise die Wochendendbeilage.

Jeden Tag. Ein paar Jahre lang. Manchmal, wenn ich früh los musste, nahm ich mit, was ich morgens nicht geschafft hat - die Reihenfolge blieb immer gleich. 


"Denn in den guten alten Zeiten verkaufte man nicht nur Nachrichten, sondern zusätzlich eine starke Droge: Gewohnheit."

schreibt Constantin Seibt in diesem Text. Das leuchtet mir persönlich sofort ein. 

Als ich die Süddeutsche nicht mehr im Abo hatte, änderte ich mein Ritual - zuerst schaltete ich morgens, nach dem ich den Kaffee aufgesetzt hatte meinen Computer ein, später saß ich wieder am Küchentisch, und wischte statt in der Zeitung zu blättern auf meinem Tablet herum. Beides war keine Ersatzdroge, keine Ersatzgewohnheit - es waren vollwertige, neue Rituale. 

Seitdem am letzten Donnerstag die erste Ausgabe meines Probeabos kam, habe ich versucht, das alte Ritual wiederzubeleben. Morgens also - statt Tablet - Zeitung zu lesen. Und ich stelle fest, dass sich da etwas geändert hat - oder vielleicht ich mich, das ist auch gut möglich. 

Ich möchte gar keine Blattkritik betreiben, darum geht es nicht, ich möchte gar nicht auf Sätzen wie 

"Gemeinsam mit Freunden baute er [Snowden] Rechner, auf denen sie japanische Computerspiele wie 'Tekken' oder 'Final Fantasy' spielten, oder in der Welt der japanischen Anime-Comic-Filme versinken. Darin geht es vor allem um einsame Helden, die neben ihrer langweiligen, bürgerlichen Existenz noch ein geheimes, aufregendes Leben führen."
herumhacken.  Solche Sätze sollten einem in jedem Medium um die Ohren gehauen werden. 

Ich möchte eher zwei, drei Dinge ansprechen, die mir aufgefallen sind - und gerade bei der Titelgeschichte, und den zahlreichen Artikeln um Snowden sieht man, was Printzeitungen nicht mehr können, und auch gar nicht versuchen sollten: Aktualität. Zu dem Zeitpunkt, als mir die ZEIT berichtete, dass Snowden sich gerade in Russland befände, hatte ich schon eine Karte mit neuen, möglichen Reisezielen Snowdens gefunden. Zu dem Zeitpunkt, als die ZEIT darüber berichtete, dass er nicht nach Ecuador geflogen sei, folgte ich auf Twitter schon dem Flugzeugsitz, in dem er nicht saß. Was die Kommentare und Meinungstexte zu dem Thema angeht: Ohne arrogant klingen  zu wollen, habe ich die gesamte Woche wesentliche klügere, differenziertere und aktuellere Meinungen im Facebook-Freundeskreis gelesen. 

Die Kehrseite dieses verzweifelten Wettlaufs mit der Aktualität ist eine Reportage im Dossier-Teil. "Verrechnet!" heißt sie, und es geht um einen Studenten, der einem Wirtschaftswissenschaftler einen Rechenfehler nachweist, der möglicherweise die Art und Weise, wie die Politik mit der Finanzkrise umgegangen ist beeinflusst hat. Die Reportage ist lang und ausdauernd, freut sich ein bisschen an ihrer eigenen Sensationalität, arbeitet mit einem klugen Dreischnitt -Student-Wirtschaftswissenschaftler-Arbeiter in Griechenland-, und ich hätte, glaube ich, soviel Text nur ungern auf einem Bildschirm gelesen. Tatsächlich hätte ich dann aber auch etwas verpasst - der Text steht nirgends online, und ich freue mich, ihn gelesen zu haben. 

Das dritte ist eine Fotostrecke namens "Wolfskinder". Fotostrecken im Print sehen nicht gut aus, jedenfalls nicht, wenn sie auf Zeitungspapier gedruckt sind. Lieber Hochglanz, am allerliebsten aber Bildschirm - diese tollen, hochaufgelösten Fotos. Nichts mit Druckraster, bitte nicht.

[Alles andere, der Vollständigkeit halber, vor allem das Feuilleton, hätte ich on- oder offline gelesen, manches gerne, manches nicht, aber das liegt am Inhalt, nicht am Medium]


Tl;dr:

Zeitungsleserituale sind eine feine Sache, aber, liebe Printzeitungen: Aktualität: Nein, Fotostrecken: Nein, lange, tolle Reportagen: Ja, gerne. 


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