Mal wieder ein bisschen Prosa, dieses Mal sogar welche, von der ich weiß, wo sie herkommt.
Es ist so, dass ich irgendwann 2010 mal in Aachen war, mit ein paar Freunden, von denen einer auf diesem Platz vor dem opulenten Aachener Rathaus voll gegen eine Laterne rannte, mit Platzwunde und allem. Das ist das eine.
Das andere ist, dass ich eine große, große Affinität zu Horrorgeschichten habe, und einer meiner ersten literarischen Lehrmeister Stephen King ist.
Das dritte ist, dass ich, während wir in Aachen waren, von jemandem dieses wunderbare Hip-Hop-Stück gezeigt bekam, mit dem Refrain "Das ist Aachen, Alter, hier ist der Tod zuhaus".
Ich schmiss das alles in einen Topf, rührte gut um, und Voilà: Eine surreale Vampirgeschichte mit noch einem guten Schuss amerikanischem Neo-Folk dazu.
Erschienen ist das ganze dann in dieser Anthologie.
Die Spielplätze der Irren
Der Spielplatz der Irren. Bild von hier. |
Der
Spielplatz der Irren ist der Platz der Herrscher, der tausend Kaiser
des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation und die Erlöserposen
verdrehen Julien den Kopf: Das Geräusch eines Schädels, der voll
gegen eine restaurierte historische Laterne knallt. Karl der Große,
und der Rest der Kaiser am Rathaus und ein in Gold gegossener Krieger
auf einem Brunnen schauen in Heldenpose zu, als Julien sich an den
Kopf fasst, und seine Platzwunde blutet auf das Kopfsteinpflaster.
Zwei Irre taxieren ihn mit schräggelegten Köpfen: Der eine, der
sich anzieht wie eine Puppe, mit roten Lippen den Plastikwangen, und
der andere, mit freiem Oberkörper, ein drahtiges Etwas, das am
liebsten Solariumfrauen mit kleinen Hunden anquatscht. Zwischen
Juliens Fingern quillt das Blut, und der Drahtige hat sich jetzt
entschlossen, zu Julien zu tanzen: Komm mit, da drin gibt’s
Pflaster, sagt er, sie schneiden oft in Ohren. Er zerrt Julien über
den Platz, zum Laden an der Ecke, an dessen Fassade ein goldener
Kamm und eine goldene Schere sind.
Juliens
Blut tropft auf den Boden, schwarze Kacheln, von denen alle fünf
Minuten das Haar gefegt wird. Der Irre winkt einem Mann mit sauber
ausrasiertem Nacken, der sich über eine Frau in Trockenhaube beugt,
und Julien hat Kopfschmerzen. Der mit dem ausrasierten Nacken kommt
und führt Julien durch den Laden, die Kaiser sind immer noch
verschwommen sichtbar durch das Fenster und es riecht nach dem
Shampoo fremder Leute. Die alten Frauen unter den Trockenhauben
schauen hoch von ihren Kreuzworträtseln, die Friseusen und Friseure
hören auf zu schneiden und zu föhnen, die Männer, deren beachblond
unter Alufolie gärt, schauen ihn mit ihrem Marsmenschengesicht an.
Da hoch, sagt der Mann, und zeigt auf eine Wendeltreppe.
Die
Friseuse sagt, sie kennt sich aus mit Fleischwunden, das ist nicht
erste Mal. Im Spiegel sieht Julien ihr Kobratatoo. Die Schlange
ringelt sich hinten aus ihrer Hose. Die Friseuse tupft das Blut ab,
das Julien ins Auge tropft. Sie kippt Desinfektionsflüssigkeit aus
einer milchigen Plastikflasche auf ein Stück Küchenrolle und reibt
es über die Wunde. Juliens Wunde brennt. Die Friseuse klebt ein
Pflaster drauf. Der Raum ist klein, nur ein Sessel, ein Spiegel,
keine Fenster und das Loch, wo die Treppe nach unten führt. Die
Friseuse hat blonde Haare mit ein paar dunklen Highlights drin. Um
das Pflaster herum verfärbt die Haut an Juliens Kopf sich blau. Die
Friseuse sagt, es sieht cool aus, und: Ruf mich doch an. Sie schreibt
ihre Telefonnummer auf ein Pflaster, und klebt es Julien auf den Arm.
Danach
darf Julien wieder auf den Platz, ein Stück Mullbinde über eine
Augenbraue geklebt, er fotografiert die Kaiser einzeln mit dem Handy,
die Auflösung ist schlecht und er kann nur aus einem Auge überhaupt
was sehen. Die Sonne geht fast schon unter. Die Irren bewegen sich
über den Platz und hüpfen von einem zum anderen, wo sie manchmal
weggeschickt werden, und manchmal nicht. Alle anderen sind im
Freeze, den Blick nach oben zu den Kaisern, oder im Café, den Löffel
im Macchiato, oder am Brunnen und wickeln ihre Brote aus. Als es zu
dunkel ist zum Fotografieren, ruft Julien die Nummer auf dem
Pflaster an, und die Friseuse lädt ihn ein, noch was zu trinken.
Julien
soll noch mit hochkommen, sagt die Friseuse, und oben schneidet sie
ihm die Haare, und reibt hinterher Ammoniak hinein, damit sie blonder
werden. Der Ammoniak läuft Julien in die Wunde und brennt. Sie hören
Platten die am Anfang und Ende rauschen und der Tonarm schwenkt mit
seinem Tonarmknacken zurück. Die Kobra ringelt sich der Friseuse bis
runter ums ganze Bein, hat sie Julien gezeigt, die Friseusenferse ist
das Ende vom Schwanz. Die Sonne geht auf und scheint durch die
Fenster und wickelt die beiden in hellen Dunst ein. Juliens Haare
sind kürzer jetzt und blond. Wir haben alle so eins, sagt die
Friseuse, und meint ihr Kobratatoo, wir Irren haben alle sowas. Der
Tonarm knackt zurück. Die Sonne steigt höher.
Der
Drahtige steht auf dem Platz im Sonnenfleck, der sich durch eine
Lücke des Gebäudes mit den Kaisern schleicht und im Gold des
Wappens auf dem Kriegerschild bricht. Der, der aussieht wie eine
Puppe dreht sich um sich selbst. Julien stellt sich in Positur vor
dem Kaiserhaus, er hat keine Sekunde geschlafen in der Nacht. Die
Friseuse fotografiert ihn mit seinen hängenden Augen. Der Drahtige
hangelt sich von Gruppe zu Gruppe auf dem Platz, er spricht mit der
Friseuse: Eine Stimme wie das Knacken und Rauschen einer Stimme am
Ende von Seite B: Keine Chance mehr zu erfahren, worum es eigentlich
ging. Die Friseuse zeigt ihm ihre Kobra. Wie Pinballs auf ihrem
Spielplatz, sagt die Friseuse, und fotografiert Julien nochmal: Sein
Gesicht mit der müden Haut stellt sie scharf, die tausend Kaiser
verschwimmen im Hintergrund.
Die
Kobra hält Julien die ganze Nacht wach: Vom Fuß bis ganz hoch
ringelt sie sich an der Friseuse, sie ist länger geworden, wie das
Rauschen am Ende der Platten, die sie hören. Die Pausen werden groß
bis am nächsten Tag das Licht wieder durch den Vorhang kriecht. Je
länger die Kobra sich ringelt, je größer die Aschehaufen in den
Untertassen werden, desto weniger kann Julien sich bewegen: Er ist
viel zu schwer dafür, als setzten der Rauch und das Rauschen sich
ihm subkutan ab. Die Platten wechseln oder nochmal von vorne hören
ist nicht drin. Morgens ist, wenn das Licht weiß ist, abends, wenn
es gelbgrün wird, und dazwischen ist Julien dunstig: Der größte
Teil des Tages besteht aus Flimmern ohne Farbe. Manchmal ist die
Friseuse tagsüber weg, dann schnappt Julien nach den Fliegen, die um
die Lampe kreisen.
Wenn
die Friseuse frei hat, schleift sie Julien zu den Kaisern, jeden Tag
zu einer anderen Zeit: Die Lichtstimmung auf den Fotos, die sie macht
ist immer anders. Keine Chance, sagt sie, es in jedem Licht
festzuhalten. Julien kann sich kaum noch auf den Beinen halten, er
schwankt, hat Kopfschmerzen, und stößt von Zeit zu Zeit die anderen
Menschen auf dem Platz an. Das ist die Wunde, sagt die Friseuse, die
blutet manchmal noch ein bisschen, mit Fleischwunden kennt sie sich
aus. Wird schon, sagt sie, und lacht ein bisschen. Oft umzirkeln die
Irren die beiden, aber genausooft auch nicht: Sobald ein Muster zu
erkennen ist, hört es auf. Julien schwankt, die Friseuse hat
Probleme, ihn scharfzustellen auf den Fotos, Julien hat Probleme, auf
den Beinen zu bleiben. Er ist auf den Fotos nur noch ein verwackelter
Schemen vor unscharfen Kaisern in Erlöserpose.
Das
Licht ist weiß und scheint Julien auf den Bauch: die Friseuse hat
ihm das Hemd ausgezogen, die Sonne macht ihm einen Fleck um den
Nabel. Der Verband kommt heute ab, sagt die Friseuse, und kriecht
ihm am Bauch vorbei zum Kopf. Sie saugt an seinen Körperteilen: An
den Ohren, an der Nase, auch am Hals. Die Wunde wickelt sie aus und
betupft sie mit Mercurochrom
aus einer braunen Flasche. Das rote Zeug fließt an Juliens Ohr
vorbei und sickert in die Matratze ein. Na Bitte, sagt sie, sieht
doch schon viel besser aus. Den Rest Mercurochrom leckt sie von
Juliens Hals bis hoch zum Ohr, und knabbert ihm ins Ohrläppchen.
Dann muss sie frisieren gehen. Den Rest des Tages hört Julien nichts
als das weiße Surren der Fliegen, die immer wieder um die
Deckenlampe kreisen, und hin und wieder kommt eine ihm zu nahe, dann
packt er sie und isst er sie: Manchmal summen sie ihm selbst noch im
Hals, die kleinen Proteinlieferanten.
An
späteren Tagen (in Juliens Wahrnehmung gibt es schon längst keine
Tage mehr, nur weißes und gelbgrünes Licht) kommt die Friseuse nur
noch zu unmöglichen Zeiten, weil für Julien jede Zeit unmöglich
ist. Zu unmöglichen Zeiten lässt die Friseuse erst Julien zur Ader,
dann sich selbst, die Friseuse erweitert den Blutkreislauf auf zwei:
Sie nuckeln sich gegenseitig ihr Blut weg, es schmeckt metallisch von
den Blutplättchen, der Tonarm ist auf Dauerrausch gestellt, auf den
Platz der Herrscher gehen sie nicht mehr: Meist liegen sie danach in
gelbgrünem Licht, ineinander verkeilt mit den Mündern an ihren
Wunden. Der Aderlass erschöpft. Es ist bald vorbei, sagt die
Friseuse einmal, und führt Juliens Hand an ihrer Kobra entlang. Denk
daran, sagt sie.
An
ihrem letzten Tag stehen sie auf in weißem Licht, Juliens Kopf dreht
sich, obwohl er sich nicht dreht: Die Friseuse hilft ihm, sich in
einen Rollstuhl zu rotieren, Man kann das nicht in jedem Licht
festhalten, sagt sie: Sie zerrt Julien die Treppe runter, sie poltern
raus ins weiße Morgenlicht, Julien mit dem Rücken zuerst. Die
Friseuse schiebt, Julien hat den Kopf gesenkt, am Straßenpflaster
erkennt er nicht, wohin es geht, aber eigentlich ist das klar, die
Kaiser in ihren Erlöserposen sieht er nicht, als sie dort sind, nur
den kleinen, goldenen Fleck, da, wo aus dem Schild heraus das
gebrochene Licht auf den Boden strahlt. Die Friseuse stellt den
Rollstuhl in den Fleck. Jetzt steh auf und spiele, sagt die
Friseuse, und Julien läuft los. Die Wunde ist schon fast komplett
verheilt, und mit den anderen Irren tanzt Julien auf ihrem
Spielplatz durch goldene Lichtflecken.
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