Schick gesetzte schicke Zeitschrift. Bild von mir. |
Das ist der eine Kreuzungspunkt, an dem dieser Text für mich liegt.
Der andere Kreuzungspunkt geht so: Weil eine Zusammenarbeit mit der Hannoverschen Zeitung leider nicht zustande kam, lag der Text eine auf meiner Festplatte rum, so lange, bis ich eine Anfrage von der Bella Triste bekam, ob ich nicht noch etwas passendes rumliegen hätte. Ich hatte, und schickte den Text hin. Er gefiel der Redaktion. Die letzten Änderungen an dem Text - das Ende, z.B. schrieb ich komplett um - machte ich im Januar 2012, als ich gerade mit Lungenentzündung im Krankenhaus lag, und mit 38 Grad Fieber. Ich glaube, es hat dem Text gut getan: Eine kleine Hommage an die Lovecraftschen Überwesen, erschienen in der Bella Triste Nr. 32 (man kann die Ausgabe auch dort noch bestellen, das lohnt sich nicht nur wegen der Texte, sondern auch, weil sie verdammt schön ist. Wirklich. Gut ausgegebenes Geld).
Unter
den Türmen hinter der Stadt
Manchmal
hält der Aufzug zwischen den Stockwerken, dann muss ich an Romy
denken. An den Gang im fünften Stock, wo sie zwischen den Kunden
ihre Zigaretten rauchte. An den rosa Bademantel, den ihre Kunden nie
zu sehen bekamen. An das Stückchen schwarze Spitze, das manchmal
darunter hervorschaute, und das ich nie ganz zu sehen bekam. Wenn
Romy keine Kunden hatte, rauchte sie, und man kämpfte sich in ihrem
Gang durch Qualm, meistens mittwochs und am Monatsende.
Der
Aufzug ächzt, wenn er anhält, ein langgezogenes Ächzen, fast eine
Stimme, ein bisschen klingt es, als beklage die Ruine sich. Ich habe
Ruinen schon immer geliebt, das hatte ich mit Romy gemeinsam. Das
hier, sagte sie, als ich sie einmal im Flur traf, eingewickelt in
diesen schäbigen rosa Bademantel, das hier, sagte sie, das Haus, die
Ruine, alles, was hier von den Wänden abbröckelt, das ist, als
hätte jemand mal
gesagt,
dass alles irgendwann besser wird. Aber was danach passiert, davon
hat niemand gesprochen. Es gibt hier nur noch Geheimnisse, die in
Wänden rascheln und vielleicht doch nur Ratten sind, oder Mäuse.
Ab in den Keller. Bild von mir. |
Wenn
der Aufzug anhält, muss ich nur auf den Knopf drücken, ich muss nur
auf die Stimme am anderen Ende der Notrufleitung warten. Manchmal
fährt der Aufzug nach ein paar Minuten einfach weiter.
Ich
habe Romy kennengelernt, weil ich den Aufzug nicht oft nehme. Ich
habe nichts dagegen, dass ich manchmal feststecke, dass ich darauf
warten muss, bis die Ruine oder der Notrufdienst mich befreien. Es
ist nicht so, dass ich etwas Besseres zu tun hätte. Ich nehme den
Aufzug oft nicht, weil ich lieber die Ruine durchstreife, die Keller,
wo ich auf das Rascheln in den Wänden höre, ich schaue mir die
Spiegelung der Betondecke
in den Pfützen
an, ich versuche mir vorzustellen, wie die Ladenzeilen aussahen,
bevor die Schaufenster zugenagelt waren, ich gehe durch die
Treppenhäuser, wo die Türen und die Fenster verrammelt sind und die
Neonröhren Schatten an die Wände flackern.
Ich
habe oft Zeit, die Treppe nach oben zu nehmen: Manchmal sage ich
anderen Leuten am Telefon, ich sei beschäftigt, aber in Wirklichkeit
gehe ich fast jeden Tag die zehn Stockwerke zu Fuß, manchmal öfter
als einmal, und beobachte die Ruine dabei, wie sie zerfällt. In der
Mitte lernte ich Romy kennen.
Romy
hieß nicht wirklich Romy, ihren richtigen Namen sagte sie mir nie,
sie meinte, Romy passe zu ihr. Wer im schmutzigen rosa Bademantel
rauchen kann, sagte sie, und dabei trotzdem noch gut aussieht, hat
den Namen verdient. Sie lehnte an der Wand, als ich sie kennenlernte,
sie bot mir eine Zigarette an: Ich rauche nicht, nach wie vor nicht,
aber ich sagte, ich könne ihr beim Rauchen zusehen. Ich hatte nichts
Besseres zu tun.
Ich
gehe heute noch manchmal an der Tür vorbei, hinter der Romy
arbeitete, auf halbem Weg zwischen Dach und Keller, durch den Flur,
der zweifarbig gestrichen ist: oben dunkelrot und unten grau, und
beide Farben blättern ab.
Ich
suche Romy nicht mehr, sie ist eine von den Geschichten aus den
Zeitungen geworden: Geschichten von Menschen, die aus unserer Ruine
nicht mehr wiederkamen. In den Zeitungen nennen sie die Ruine ein
Objekt. Ein sanierungsbedürftiges Objekt. Als sei die Ruine leblos,
nur totes Gemäuer, als könne man alles mit ein bisschen Geld
verspachteln, ihr den Unfug damit austreiben. Sie hat sich jahrelang
dagegen gewehrt.
Ich
hätte, daran denke ich, wenn der Aufzug feststeckt, nicht gehen
sollen, ich hätte nicht weglaufen dürfen. Aber vielleicht wäre ich
dann jetzt auch verschwunden, und ich kenne niemanden, der mich
suchen würde, so, wie ich Romy gesucht habe. Es ist leicht, mutig zu
sein, oben, in meiner Wohnung, wenn die Türen abgeschlossen sind,
wenn die Musik läuft, und die Stadt von unten mein Wohnzimmer
beleuchtet. Wenn ich die Lampen ein- und ausschalten kann, wie ich
will. Selbst im Aufzug ist es leicht, mutig zu ein, vergleichsweise.
Es ist leicht, wenn es nicht dunkel ist, und nicht nach diesem Sumpf
riecht, wenn sich nicht hinter jeder Ecke etwas bewegt.
Wo sich die Geheimisse in Rohrbrüchen spiegeln. Bild von mir. |
Früher
kam Romy abends vorbei, nach der Arbeit, und wir tranken Wein oder
Bier oder was eben da war, und starrten aus dem Fenster Richtung
Horizont, wir hörten Musik, die Romy mitbrachte: Musik, in denen die
Trompeten und Saxophone im Rhythmus der Lichter unter uns flackerten,
und Romy stand da und rauchte, und wenn sie weg war, musste ich
lüften. Romy blieb nie über Nacht. Ich erinnere mich an ihre
Silhouette, die vor dem Fenster steht, die Stadt tief unter ihr: Ich
wohne im zehnten Stock, die Bäume und die ganzen anderen Hochhäuser
liegen unter mir, lagen unter uns: Es gibt in dieser Stadt nichts,
das höher ist als der Turm auf der Halbinsel, man sieht zumindest
nichts davon aus dem Fenster.
Romy
redete nicht über ihre Arbeit, sie mochte es nicht, sagte sie, sie
mit in den Feierabend zu nehmen. Ich ging nie zu ihr, ich hätte es
mir nicht leisten können. Ich konnte ihr Wein kaufen, und Bier, ich
konnte ihr mein Fenster anbieten, den Ausblick, und hin und wieder
ein unterkühltes Trompetensolo. Romy wohnte schon länger in der
Ruine als ich, nicht viel länger, ein zwei Jahre, aber aus ihrem
Fenster sah man nicht so viel wie aus meinem. Hätten wir uns
umgedreht, und hätte es dort ein Fenster gegeben, oder hätten wir
am Badfenster gestanden, zu zweit, dichtgedrängt, hätten wir statt
der Stadt die anderen Türme sehen können: Unsere Ruine besteht aus
Türmen und Winkeln, und Wohnungsblöcken, die vom Himmel dazwischen
gefallen sind.
Romys
Streifzüge waren länger als meine, ich gehe immer nur von unten
nach oben, Romy ging die Türme in immer weiteren Kreisen ab, soweit
das Labyrinth es zuließ: ausgedehnte Wanderungen zu den Türmen, die
ich immer nur im Bad sehe, morgens, hinter mir im Spiegel, oder
abends, wenn ich mir die Zähne putze: Die Türme liegen
spiegelverkehrt hinten im Dunst, der immer über unserer Stadt hängt.
Unter
einem der Türme, sagte Romy, dem am anderen Ende unserer Halbinsel,
sei in Schwimmbad, einmal sei sie dort gewesen, nach der Arbeit, als
der letzte Kunde verschwunden war, und sie noch warten musste, bis
der Geruch aus ihrer Wohnung verschwunden war: Für Romy gab es einen
Arbeitsgeruch und einen Schlafgeruch, bei dem einen konnte sie nicht
schlafen, und bei dem anderen nicht arbeiten.
Sie
sei, erzählte sie, durch einen der Keller gegangen, mit ihrer
Taschenlampe in der Hand und dem Pfefferspray in der anderen: Es ist
nur manchmal die Ruine, die die Menschen nicht mehr gehen lässt. Sie
sei eine Stunde durch die Keller gegangen, sagte Romy, nur sie und
ihre Taschenlampe, und die Ratten in den Wänden: Das ist das
Einzige, was man dort unten hört.
Manchmal,
sagte Romy, sei sie in Räume gekommen, in denen jemand irgendwann
einmal vergessen hatte, die Neonröhren auszuschalten: Sie surrten
dort schon jahrelang und beleuchteten den Staub, in dem es keine
Fußspuren gab, sie war so tief, so weit eingedrungen ins Labyrinth,
dass es noch nicht einmal mehr Müll gab: Niemand war hergekommen und
hatte etwas abgestellt. Müll gab es nur in der Randzone, an den
Eingängen. Romy wusste nicht mehr, wo und wie oft sie abgebogen war,
sie merkte sich ihre Wege nicht. Ich selbst habe das Schwimmbad nie
gefunden, obwohl ich gesucht habe, als ich Romy nicht mehr
wiederfand, als ich selbst den Baum sehen wollte, den sie dort
gefunden hatte.
Das
Schwimmbad, sagte Romy, hätte sich nicht angekündigt: Es hätte
keine Rohre gegeben, keine Leitungen, Heizungen, keinen Chlorgeruch,
nichts davon: Sie öffnete eine Tür und stand im Kinderparadies,
Clowns waren an die Wände gemalt und grinsten sie an, und die
Fliesen bröckelten von den Wänden, Plastikpalmen ließen ihre Wedel
hängen, weiter hinten war ein großes Sportbecken, und nirgends gab
es Wasser, die Fugen zwischen den Beckenfliesen hatten keine Algen
angesetzt. Romy glaubte, das Schwimmbad hätte nie Wasser gesehen, es
sei nie jemand hier geschwommen. Sie sagte, sie hätte vier Becken
gezählt, einen Sprungturm und zwei Rutschen, und in der Mitte stand
ein riesiger Plastikbaum, um den sich die Rutschen runter in die
leeren Becken wanden: Mindestens zwei Stockwerke hoch, sagte sie,
aber ihre Taschenlampe reichte nicht weit genug nach oben, der
Lichtstrahl verlor sich auf halbem Weg.
Ich
kenne die Keller: Man sieht dort immer jemanden: die Schatten
rostiger Metallträger oder irgendwelcher Rohre, die nirgends mehr
hinführen, in den vorderen Kellerteilen Kinderwägen und Fahrräder,
die in dunklen Ecken verrotten. Das, und die Geräusche der Tiere in
den Wänden, das viel zu kleine Licht der Taschenlampe:
Aus
solchen Teilen setzen sich die Menschen zusammen, denen man hier
begegnet: Spuren, Schatten, Poltern, Rohre.
Durch viel zu lange Gänge im Dunkeln. Bild von mir. |
Die
Sache
ist die: Ich muss mich entscheiden. Ich muss mich entscheiden, ob es
ein Mensch war, der Romy mitgenommen hat, ob sie es selbst war, oder
etwas anderes. Ich muss mich entscheiden, ob der Aufzug immer anhält,
weil er kaputt ist, oder weil er anhalten will.
Romy
kam wieder aus dem Schwimmbad heraus, natürlich. Die Ruinenkeller
haben genauso viele Eingänge wie Ausgänge. Letztendlich passierte
nichts, außer dass Romy am Rand ihrer Wahrnehmung ein Schatten
gefolgt war, ein Schauer auf dem Rücken, über den wir lachten, als
wir bei mir saßen und auf die Lichter unten in der Stadt schauten,
als wir Wein tranken und Musik hörten. Wir saßen in einer sicheren
Höhle, und das beruhigte uns, vielleicht ein wenig zu sehr, glaube
ich heute.
Damals
glaube ich, dass das, was Romy im Schwimmbad gesehen hatte, nur sie
war, ihre Angst, der Schrott, die Rohre, das schmale Licht. Hätten
wir etwas anderes geglaubt, wären wir nicht noch tiefer gestiegen,
wir hätten niemals die oberen Kellerräume verlassen, wir wären
niemals über den Ring aus Müll herausgegangen, der anzeigte, dass
irgendwann einmal ein Mensch dort gewesen sein musste. Wir hätten
niemals eine rostige Metalltür nach der anderen geöffnet, wären
niemals eine Treppe nach der anderen hinuntergestiegen. Wir glaubten
damals, glaube ich heute, viel zu wenig.
Der
Plan, den wir hatten, unsere Idee, unsere Unternehmung: Wären wir
unten gewesen, wir hätten es bleiben lassen. Aber wir saßen hoch
über allem, in meinem Wohnzimmer, in den alten Sesseln, die ich
schon mein halbes Leben lang von Wohnung zu Wohnung schleppe. Wir
hörten Musik, deren unterkühlte Trompetensoli uns beruhigten, wir
tranken Wein, der uns alles egal sein ließ, und Romy hatte die erste
Blüte Gras dabei, die ich seit Jahren gesehen hatte: Sie sagte, es
sei, um ihren Kopf auszulüften. Wir rauchten es, und Vieles erschien
uns wie eine gute Idee: Nichts zu sagen, auf dem Teppich zu liegen,
die Blechbläsersoli zu hören, als wären es unsere Körper, die sie
ausatmeten.
Ich
will nicht alles auf den einen Abend schieben, oder auf die
Schutzatmosphäre, die wir uns schufen. Ich schiebe es auch auf uns:
Ich habe Ruinen, ich habe unsere Ruine, immer geliebt. Deswegen war
ich derjenige, zu dem Romy abends immer kam, derjenige, dem sie von
ihren Ausflügen erzählte. Romy sah die Ruine anders als ich: Ich
sah ihr immer nur dabei zu, wie sie verfiel, Romy sah in dem
abblätternden Putz einen Traum, der sich schon längst erfüllt
hatte, und baute sich aus den Resten dieser alten Träume, aus dem,
was übrig war, ihren eigenen: Romy sah etwas Neues, während ich nur
sah, wie das Alte sich auflöste.
Es
war Romy, die vorschlug, noch einmal nach unten zu gehen. Nicht ins
Schwimmbad, das kannte sie schon, tiefer runter, so tief, bis es
keine Treppen mehr gäbe, die wir hinuntersteigen könnten: Sie
wollte bis zur Wand hinter der letzten Tür gehen, nur um zu sehen,
wo das sein könnte, und was es dort für sie, für uns, zu sehen
gäbe. Das letzte Geheimnis der Ruine erkunden, so sagte sie es.
Ich
kannte die Keller, ich kannte die tiefen Punkte, und wusste, wie tief
sie waren, und dass es dort zwischen den Orten, wo Türme und
Wohnungsblöcke Wurzeln schlugen, immer noch eine Treppe gab. Romy
wusste, wie weitläufig es dort unten war, wie weit man unten in den
Gängen geradeaus gehen konnte, soweit, glaubte sie, dass man unsere
Halbinsel mit den Türmen verließ, dass man irgendwo anders unter
der Stadt war, vielleicht unter dem Fluss. Ich weiß noch, wie wir
Sachen packten, Taschenlampen, Ersatzbatterien, Pfefferspray, Obst,
einen Erste-Hilfe-Kasten, und kein bisschen über unsere eigene
Vorsicht lachten. Wir brauchten das alles nicht, bis auf die
Taschenlampen, und wären ohne vielleicht besser dran gewesen.
Es
war schwül, die Luft bewegte sich nicht, Gewittertierchen klatschten
an mein Fenster, wir schwitzten, während hinten, hinter der Stadt,
hinten im Dunst, die ersten Blitze leuchteten.
Wir
liefen die Treppen hinunter und gingen kaum geradeaus,
immer
nur die paar Meter bis zur nächsten rostigen Tür, wo die nächste
Treppe in eine neue Dunkelheit führte, wo es immer kühler wurde.
Als ich wieder herauskam, roch es nach Regen, und die Straßen waren
nass, und später hörte ich von Bäumen, die entwurzelt worden
waren. Wir bekamen unten nichts davon mit. In den Kellern ist es
anders dunkel als die Nacht draußen: Draußen gibt es immer Lichter,
es gibt immer Sterne, einen Mond. Es gibt immer etwas, das einen
daran hindert, nichts zu sehen. Ohne Taschenlampen sind die Keller so
dunkel, dass es keine Wände gibt. Es gibt nur schwarz, und die
Geräusche hören auf. Je tiefer man kommt, desto ruhiger ist es.
Dort unten ist es so still, dass jedes kleine Geräusch sich
auffaltet, sich übereinanderschichtet, so lange, bis es alles sein
könnte, und von überall herkommen könnte. Ganz am Ende, als selbst
das vorbei war, gab es nichts als uns. Unsere Schritte, unser Atmen,
das Rauschen unseres eigenen Blutes in den Ohren. Wir gingen nach
unten, wir schwenkten das Licht unserer Taschenlampen hin und her,
wir suchten nach der nächsten Tür: Wir kamen in leere Räume,
grauer Beton, wo es noch nicht einmal Staub gab, nicht einmal eine
kaputte Lampe an der Decke, keine Rohre, nichts von den Eingeweiden
der Ruine, wie wir sie kannten. Wir flüsterten, obwohl es dafür
keinen Grund gab, außer dem Echo.
Ich
habe, als ich wieder oben war, nachgeschaut, habe gesucht, was wir da
gefunden hatten: Das Schwimmbad gibt es nicht, nirgends, die
Zeitungen berichten nicht davon, und auf die Baupläne verlasse ich
mich sowieso nicht mehr. Es sollte nicht da sein, irgendjemand hat es
irgendwann gebaut, und kein Wasser in die Becken gelassen:
Irgendjemand hat es irgendwann vergessen, als wäre es nie da
gewesen.
Was wir zuerst
fanden, gibt es, die Zeitungen nennen es Geisterstation: Eine
Erweiterung der U-Bahn, eine Station, die nie ans Netz angeschlossen
worden war.
Ich weiß nicht, warum sie es Geisterstation nennen, Geister, dachte
ich immer, seien die Reste der Lebenden, das, was übrig bleibt.
Es gibt keine Schienen, keine Werbeplakate, keine Menschen und keine
Spuren von Menschen. Es gibt keine Reste, weil nie etwas dort gewesen
ist, was Reste hätte hinterlassen können. Es ist nicht, als hätte
jemand die Station gebaut, eher, als sei sie einfach da gewesen, als
gehöre sie zur Ruine, als sei sie ein Teil des Wurzelwerks, als sei
die Ruine einfach daraus erwachsen. Unsere Schritte hallten, als wir
daran vorbeigingen, dort, wo eigentlich die Schienen hätten liegen
sollen.
Wir schauten uns um, nach hinten in den Tunnel und nach vorne, als
käme vielleicht doch noch irgendwann ein Zug. Wir erkundeten die
Station nicht, ich
erinnere mich, dass Romy ihr Pfefferspray in die Hand nahm,
vielleicht, weil sie glaubte, sie bräuchte eine Waffe. Wir gingen an
der Station vorbei, wir probierten Türen an den Tunnelwänden aus,
es waren Notausgänge, die wir nicht nehmen wollten, weil die Treppen
dahinter alle nach oben führten, wir gingen immer tiefer in den
Tunnel. Heute glaube ich, es ging bergab, wir bemerkten die Neigung
nicht.
Keller, Schockwave! Bild von mir. |
Was
mich heute erstaunt, ist nicht, dass irgendjemand diese Ruine
tatsächlich einmal gebaut hat, geplant, dass jemand sie für eine
gute Idee hielt: Ich verstehe jetzt, was Romy damit meinte, wenn sie
sagte, dass sie ein Versprechen sei, dass sich schön längst erfüllt
habe. Was mich erstaunt ist, dass es noch da ist, dass es danach
einfach stehen blieb.
Wir
konnten es riechen, bevor wir es sahen: Der Tunnel führte bergab,
und was wir fanden, war tatsächlich die letzte Wand der Ruine, das
Ende der Keller. Es roch modrig, dieser dunkle, grüne Geruch von
feuchten Wäldern, wo alles ständig verrottet und aus dem, was übrig
bleibt, wieder etwas Neues wächst, das wieder verrottet. Hinter dem
letzten Stück Tunnel sahen wir die Wurzeln der Ruine, riesige,
braune Stämme, auf denen Flechten wuchsen, von denen Wasser tropfte,
sich unten in Lachen sammelte, aus denen andere Stämme nach oben
wuchsen und sich um die Wurzeln wanden, in sie hineinwuchsen: Wir
sahen dort unten einen Wald aus Wurzelwerk, in dem es keine Blätter
gab, wir sahen Seen, in denen Schlamm auf dem Wasser stand. Sie
rochen nach etwas Lebendigem, das gerade stirbt, nach Maden, die sich
durch Fleisch fressen. Es roch wie ein Kühlschrank, der jahrelang
nicht eingeschaltet war. Wir gingen weiter, wir verfingen uns in den
Wurzelschlaufen und stolperten, während wir mit unseren
Taschenlampen nach oben leuchteten, und ich erinnere mich, dass meine
Füße nass wurden, dass das modrige Wasser sich durch meine Socken,
durch meine Turnschuhe hochzog. Von oben tröpfelte es, das Echo der
Tropfen faltete sich über uns auf, als sei es ein Wasserfall, es
rauschte, unsere Kleidung wurde klamm, und unsere Haare lagen platt
an den Köpfen. Ich erinnere mich, dass wir nicht redeten, dass wir
schweigend durch den Wald stolperten, versuchten, uns an den
glitschigen Stämmen festzuhalten, und dass wir uns irgendwann
verliefen, dass wir nicht mehr wussten, wo wir hergekommen waren:
Durch den Wald, durch das Wurzelwerk der Ruine gab es keinen geraden
Weg.
Romy
nahm meine Hand.
Als ich
sah, wie sich etwas bewegte, irgendwo zwischen den blattlosen Bäumen,
riss ich mich los und lief. Die Hand war feucht, glitschig von den
Stämmen, an denen wir uns abgestützt, an denen wir uns vorwärts
gezogen hatten, die Hand war das Letzte, was ich von
ihr spürte. Ich
hörte noch, wie sie nach mir rief, das glaube ich jedenfalls, wenn
ich heute daran denke. Ich weiß nicht, wo wir waren, vielleicht war
es unter dem Fluss, vielleicht auch unter dem Schwimmbad, ich glaube
fast, eine der Wurzeln mündet oben in den Baum. Ich würde das
Schwimmbad gerne finden, würde mich gerne vergewissern, dass der
Baum tatsächlich aus Plastik ist. Ich würde die Wurzeln und die
Bäume gerne wiederfinden.
Ich bin mir nicht
ganz sicher, wie ich wieder nach oben kam, ich nehme an, ich fand
einen Aufzug, der nicht stecken blieb.
Ich
weiß nur, dass ich eine Tür öffnete und im Freien stand, die Luft
roch nach Gewitter, und die Straßenlaternen hatten Lichtbögen von
dem Dunst, der aus der nassen Erde kam.
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