So sieht es aus, das Printprodukt. Bild von mir. |
Im Jahr 1910 erschien ein wunderbares Buch namens "Die Welt in 100 Jahren" , in dem Experten der damaligen Zeit sich Gedanken dazu machen, wie das jetzt wohl alles in der Zukunft aussieht. Zwei, drei dieser Leute treffen unsere Welt ziemlich genau - vor allem, wenn es um Kommunikation geht, Handys, Videotelefonie, solche Sachen. Wieder anderes ist extrem charmant ins Klo gegriffen (in einem meiner Lieblingstexte geht es um die großen Zeppelinkriege zwischen dem britischen Empire und dem japanischen Kaiserreich, grandiosester Steampunk). Ich habe auch mal eine Rezension dazu geschrieben.
2011, anlässlich des Literaturfestes Niedersachsen zum Thema "Zeit" versuchten 8 Junge Autoren (Klaus Hausbalk, Dana Buchzik, Victor Witte, Robert Wenrich, Marc Oliver Rühle, Juliana Kálnay, Stefan Vidovic und, klar, ich) das Ganze nochmal zu machen. Hier kann man das Büchlein kaufen, hier kann man ein Video sehen, in dem ich es vorlese, und mein Text daraus geht so:
Der
Tod und die Hoverboards
Ich
weiß noch,
wie es war, als mir klar wurde, dass ich sterblich bin, der
Augenblick, in dem ich begriff, dass der Tod sich nicht nur auf die
Hamster, Kaninchen und Meerschweinchen beschränkte, die ich damals
alle zwei bis drei Jahre bewegungslos in ihrem Käfig fand. Ich weiß
nicht, ob mein Vater zu dem Zeitpunkt schlief, aber das ist ein Bild,
das ich von meinem Vater habe: Wie er in seinem Sessel sitzt, die
Beine hochgelegt, den Kopf schief auf den Schultern, das Päckchen
gelben Javaanse-Jongens-Tabak und den Aschenbecher sorgfältig auf
der Brust ausbalanciert. Wir hatten und einen Film ausgeliehen, und
sahen ihn uns an. Wahrscheinlich hat man von unten die Stadt gehört:
Mein Vater wohnte damals im 10. Stock eines Hochhauses irgendwo in
Bremen. Es war der Film, den wir uns für den Abend ausgeliehen
hatten, der mich daran erinnerte, dass ich irgendwann einmal sterben
würde. Der Film hieß Highlander.
Mein
Vater hatte den Film ausgesucht, er war immer derjenige, der in die
Videothek ging, ich war zu jung, ich dürfe da nicht rein, sagte er.
Das ist ein anderes Bild, das ich von meinem Vater habe: Wie er im
Regen aus der Videothek kommt, die Lederjacke über den Kopf gezogen,
Videohüllen an den Körper gedrückt.
Es
ist heiß in dem Wohnzimmer. Die Balkontür steht offen. Am Horizont
ist schon das erste Wetterleuchten zu sehen, von dem Gewitter, das in
der Nacht noch losbrechen wird. Connor McLeod, der Unsterbliche,
geboren im Schottland des 16. Jahrhunderts, kommt im New York der
1980er in eine Wohnung, sieht ein Gemälde eines Mannes im
Schottenrock, die grünen Hügel der Highlands im Hintergrund McLeod
lächelt kurz und dreht sich weg. Ich bezweifle, dass es diese Szene war, die mich
als Junge fasziniert hat, aber, jetzt, während ich den Film wieder
anschaue, und nach einer Szene suche, die konzentriert das enthalten
könnte, was mich schockierte, stoße ich auf diese: Der ganze Bogen
des Films
steckt in diesem kleinen Kopfnicken, diesem Lächeln, dieser kleinen
Geste des Highlanders in Richtung seiner Vergangenheit, seines
Ursprungs.
Highlander
ist kein Film über den Kulturschock, dem jemand ausgeliefert sein
muss, der im Schottland des 16. Jahrhunderts sozialisiert wurde und
im New York der 80er lebt, Ich fragte mich damals, wie ich damit
klarkommen würde: mit
dieser ständigen Veränderung, mit der Gewissheit, dass ich mein eigenes, unendliches Leben an eine immer wieder neue Welt, sich
verändernde Welt anpassen müsste. Dann wurde mir klar, dass das
höchstwahrscheinlich gar nicht nötig wäre: dass
mein Leben nicht unendlich ist, und das der anderen auch nicht. Das
war der Augenblick meines Schocks, oder: meiner Erkenntnis über
meine Sterblichkeit, und wäre die Welt perfekt, wäre genau zu
diesem Zeitpunkt das Gewitter losgebrochen.
Meine
Großmutter sagte immer, dass, wenn ich erwachsen wäre, bestimmt
alle Menschen mit Düsen am Rücken durch die Gegend fliegen würden,
eine Zukunftsvision, die ich immer genauso attraktiv fand, wie die
Hoverboards aus Zurück in die Zukunft 2: Es muss einmal so etwas
geben, da bin ich mir sicher - wenn es sich jemand vorstellen kann,
wird es jemand auch einmal bauen - aber nach Highlander war ich mir
nicht mehr so sicher, ob ich das noch erleben würde.
Ich
weiß, ich werfe hier mit großen Worten um mich,
während ich in meinem Zimmer sitze, ein mittelwarmer Junitag des
Jahres 2011, während ich hier tippe, Kaffee trinke, rauche. Ich
dürfte das nicht, ich dürfte nicht mit solchen Worten um mich
werfen: Ich
mache mich lächerlich, weil ich keine Vorstellung habe. Ich weiß
nicht genau, wann das war, damals, mit Highlander, 1993, 1994, einer
dieser Sommer, wahrscheinlich. Wir mussten damals in die Videothek,
das war sogar noch, bevor es DVDs gab, das war diese mittelalterliche
Videokassetten-analog-Technik; die Kassetten musste man
zurückspulen. Wenn ich jetzt die Filme nochmal anschauen will,
Highlander, Zurück in die Zukunft, brauche ich nicht länger als
fünf Minuten zu suchen, ich muss noch nicht einmal aus dem Haus.
Wenn meine Großmutter von der Zukunft träumte, dann dachte sie sich
etwas, dass sie als Bildtelefon bezeichnet. Vor ein paar Monaten
zeigte ich ihr, wie ein Videochat funktioniert, und sie war mit einem
Schlag mitten in ihre Vorstellung von Science-Fiction katapultiert
worden. Von dem einen Punkt bis zum anderen hat es kaum ein Jahrzehnt
gedauert, und deshalb hat Zukunft für mich immer auch etwas mit der
Überraschung zu tun, die mich dann irgendwann nicht mehr überraschen
kann: Ich fühle mich betrogen, als würde mir das Ende eines guten Films vorenthalten
werden: Ich will wissen, wie es weitergeht, ich will wissen, welche
liebenswerten Verrücktheiten den Leuten noch so einfallen: Ich bin
mir sicher, dass es sich lohnt, dabei zu sein. Das ist, worum ich den
Highlander beneide, oder Marty McFly: Allein die Vorstellung, nicht
dabei sein zu können, wobei auch immer, das ist doch traurig.
Vor
ein paar Tagen lernte ich Andy in einer Kneipe kennen, in seinem
Fatalismus fast schon ein Zen-Meister: Andy ist Alkoholiker,
Ex-Neonazi, hat seine Frau bei einem Autounfall verloren und die
Worte "Love" und "Anja" (der Name seiner Frau)
auf die Fingerknöchel tätowiert. Er ist 52 und hatte schon zwei
Herzinfarkte. Irgendwie hat er das alles verdaut, und ist immer noch
da, aber er hat aufgegeben. Wenn Andy morgens aufsteht, stelle ich
mir vor, ist er immer wieder neu überrascht, dass es ihn noch gibt.
Andy ist ein Mensch, der ohne Zukunft lebt, einer, der nicht glaubt,
dass da noch etwas kommen könnte, außer sein dritter Herzinfarkt,
und dann, sagt er, könnten die Ärzte ihn nicht mehr zurückholen:
Als sei der Lebenshunger irgendwann einmal aufgebraucht. Oder als sei
es irgendwann egal, als sei Leben und Nicht-Leben an einem bestimmten
Punkt dasselbe, als sei das, was noch kommt an irgendeinem Punkt
nicht mehr wichtig. Als wartete da jemand nicht auf den Rest seines
Lebens, sondern auf den Tod.
Einen
oder zwei Tage später sitze ich in M.s Sessel, ein bequemer Sessel,
ähnlich wie der, auf dem mein Vater immer eingeschlafen ist. M.
sitzt daneben am Schreibtisch, der Lüfter von ihrem Laptop pustet,
sie schreibt etwas über Hegel, oder Nietzsche, oder Adorno. M. macht ständig solche Sachen, einmal ist sie Bus
gefahren, und als sie wieder kam, sagte sie, sie hätte vor Freude
geweint, weil sie Kant verstanden habe. So etwas müsste öfter
passieren: Mich
erstaunt oft, wie die Menschen an manchen Tagen an den Bushaltestellen
stehen und grimmig kucken.
Vielleicht liegt es an mir, ich bin mir nicht sicher, aber vor allem,
wenn der graue Scheißhimmel über der Stadt hängt, dann habe ich
das Gefühl, dass sie nicht wissen, dass alles einfach irgendwann
aufhört, dass ständig Neues
passiert, und keines davon mehr ihres,und auch nicht meines
sein wird. Da kann ich Geschichten erfinden,
wie ich will: Keine davon wird reichen. Ich weiß, ich werde in 100
Jahren nicht mehr da sein. Aber dieser Text vielleicht. Also, liebe
Leser im Jahr 2111: Ich habe keine Ahnung, wie eure Welt aussieht.
Aber bitte dreht doch eine Runde auf euren Hoverboards für mich.
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