Dienstag, 29. Januar 2013

We were promised hoverboards

So sieht es aus, das Printprodukt. Bild von mir.
Im Jahr 1910 erschien ein wunderbares Buch namens "Die Welt in 100 Jahren" , in dem Experten der damaligen Zeit sich Gedanken dazu machen, wie das jetzt wohl alles in der Zukunft aussieht. Zwei, drei dieser Leute treffen unsere Welt ziemlich genau - vor allem, wenn es um Kommunikation geht, Handys, Videotelefonie, solche Sachen. Wieder anderes ist extrem charmant ins Klo gegriffen (in einem meiner Lieblingstexte geht es um die großen Zeppelinkriege zwischen dem britischen Empire und dem japanischen Kaiserreich, grandiosester Steampunk). Ich habe auch mal eine Rezension dazu geschrieben.
2011, anlässlich des Literaturfestes Niedersachsen zum Thema "Zeit" versuchten 8 Junge Autoren (Klaus Hausbalk, Dana Buchzik, Victor Witte, Robert Wenrich, Marc Oliver Rühle, Juliana Kálnay, Stefan Vidovic und, klar, ich) das Ganze nochmal zu machen. Hier kann man das Büchlein kaufen, hier kann man ein Video sehen, in dem ich es vorlese, und mein Text daraus geht so: 




Der Tod und die Hoverboards

Ich weiß noch, wie es war, als mir klar wurde, dass ich sterblich bin, der Augenblick, in dem ich begriff, dass der Tod sich nicht nur auf die Hamster, Kaninchen und Meerschweinchen beschränkte, die ich damals alle zwei bis drei Jahre bewegungslos in ihrem Käfig fand. Ich weiß nicht, ob mein Vater zu dem Zeitpunkt schlief, aber das ist ein Bild, das ich von meinem Vater habe: Wie er in seinem Sessel sitzt, die Beine hochgelegt, den Kopf schief auf den Schultern, das Päckchen gelben Javaanse-Jongens-Tabak und den Aschenbecher sorgfältig auf der Brust ausbalanciert. Wir hatten und einen Film ausgeliehen, und sahen ihn uns an. Wahrscheinlich hat man von unten die Stadt gehört: Mein Vater wohnte damals im 10. Stock eines Hochhauses irgendwo in Bremen. Es war der Film, den wir uns für den Abend ausgeliehen hatten, der mich daran erinnerte, dass ich irgendwann einmal sterben würde. Der Film hieß Highlander.


Mein Vater hatte den Film ausgesucht, er war immer derjenige, der in die Videothek ging, ich war zu jung, ich dürfe da nicht rein, sagte er. Das ist ein anderes Bild, das ich von meinem Vater habe: Wie er im Regen aus der Videothek kommt, die Lederjacke über den Kopf gezogen, Videohüllen an den Körper gedrückt.

Es ist heiß in dem Wohnzimmer. Die Balkontür steht offen. Am Horizont ist schon das erste Wetterleuchten zu sehen, von dem Gewitter, das in der Nacht noch losbrechen wird. Connor McLeod, der Unsterbliche, geboren im Schottland des 16. Jahrhunderts, kommt im New York der 1980er in eine Wohnung, sieht ein Gemälde eines Mannes im Schottenrock, die grünen Hügel der Highlands im Hintergrund McLeod lächelt kurz und dreht sich weg. Ich bezweifle, dass es diese Szene war, die mich als Junge fasziniert hat, aber, jetzt, während ich den Film wieder anschaue, und nach einer Szene suche, die konzentriert das enthalten könnte, was mich schockierte, stoße ich auf diese: Der ganze Bogen des Films steckt in diesem kleinen Kopfnicken, diesem Lächeln, dieser kleinen Geste des Highlanders in Richtung seiner Vergangenheit, seines Ursprungs.

Highlander ist kein Film über den Kulturschock, dem jemand ausgeliefert sein muss, der im Schottland des 16. Jahrhunderts sozialisiert wurde und im New York der 80er lebt, Ich fragte mich damals, wie ich damit klarkommen würde: mit dieser ständigen Veränderung, mit der Gewissheit, dass ich mein eigenes, unendliches Leben an eine immer wieder neue Welt, sich verändernde Welt anpassen müsste. Dann wurde mir klar, dass das höchstwahrscheinlich gar nicht nötig wäre: dass mein Leben nicht unendlich ist, und das der anderen auch nicht. Das war der Augenblick meines Schocks, oder: meiner Erkenntnis über meine Sterblichkeit, und wäre die Welt perfekt, wäre genau zu diesem Zeitpunkt das Gewitter losgebrochen.

Meine Großmutter sagte immer, dass, wenn ich erwachsen wäre, bestimmt alle Menschen mit Düsen am Rücken durch die Gegend fliegen würden, eine Zukunftsvision, die ich immer genauso attraktiv fand, wie die Hoverboards aus Zurück in die Zukunft 2: Es muss einmal so etwas geben, da bin ich mir sicher - wenn es sich jemand vorstellen kann, wird es jemand auch einmal bauen - aber nach Highlander war ich mir nicht mehr so sicher, ob ich das noch erleben würde.

Ich weiß, ich werfe hier mit großen Worten um mich, während ich in meinem Zimmer sitze, ein mittelwarmer Junitag des Jahres 2011, während ich hier tippe, Kaffee trinke, rauche. Ich dürfte das nicht, ich dürfte nicht mit solchen Worten um mich werfen: Ich mache mich lächerlich, weil ich keine Vorstellung habe. Ich weiß nicht genau, wann das war, damals, mit Highlander, 1993, 1994, einer dieser Sommer, wahrscheinlich. Wir mussten damals in die Videothek, das war sogar noch, bevor es DVDs gab, das war diese mittelalterliche Videokassetten-analog-Technik; die Kassetten musste man zurückspulen. Wenn ich jetzt die Filme nochmal anschauen will, Highlander, Zurück in die Zukunft, brauche ich nicht länger als fünf Minuten zu suchen, ich muss noch nicht einmal aus dem Haus. Wenn meine Großmutter von der Zukunft träumte, dann dachte sie sich etwas, dass sie als Bildtelefon bezeichnet. Vor ein paar Monaten zeigte ich ihr, wie ein Videochat funktioniert, und sie war mit einem Schlag mitten in ihre Vorstellung von Science-Fiction katapultiert worden. Von dem einen Punkt bis zum anderen hat es kaum ein Jahrzehnt gedauert, und deshalb hat Zukunft für mich immer auch etwas mit der Überraschung zu tun, die mich dann irgendwann nicht mehr überraschen kann: Ich fühle mich betrogen, als würde mir das Ende eines guten Films vorenthalten werden: Ich will wissen, wie es weitergeht, ich will wissen, welche liebenswerten Verrücktheiten den Leuten noch so einfallen: Ich bin mir sicher, dass es sich lohnt, dabei zu sein. Das ist, worum ich den Highlander beneide, oder Marty McFly: Allein die Vorstellung, nicht dabei sein zu können, wobei auch immer, das ist doch traurig.

Vor ein paar Tagen lernte ich Andy in einer Kneipe kennen, in seinem Fatalismus fast schon ein Zen-Meister: Andy ist Alkoholiker, Ex-Neonazi, hat seine Frau bei einem Autounfall verloren und die Worte "Love" und "Anja" (der Name seiner Frau) auf die Fingerknöchel tätowiert. Er ist 52 und hatte schon zwei Herzinfarkte. Irgendwie hat er das alles verdaut, und ist immer noch da, aber er hat aufgegeben. Wenn Andy morgens aufsteht, stelle ich mir vor, ist er immer wieder neu überrascht, dass es ihn noch gibt. Andy ist ein Mensch, der ohne Zukunft lebt, einer, der nicht glaubt, dass da noch etwas kommen könnte, außer sein dritter Herzinfarkt, und dann, sagt er, könnten die Ärzte ihn nicht mehr zurückholen: Als sei der Lebenshunger irgendwann einmal aufgebraucht. Oder als sei es irgendwann egal, als sei Leben und Nicht-Leben an einem bestimmten Punkt dasselbe, als sei das, was noch kommt an irgendeinem Punkt nicht mehr wichtig. Als wartete da jemand nicht auf den Rest seines Lebens, sondern auf den Tod.

Einen oder zwei Tage später sitze ich in M.s Sessel, ein bequemer Sessel, ähnlich wie der, auf dem mein Vater immer eingeschlafen ist. M. sitzt daneben am Schreibtisch, der Lüfter von ihrem Laptop pustet, sie schreibt etwas über Hegel, oder Nietzsche, oder Adorno. M. macht ständig solche Sachen, einmal ist sie Bus gefahren, und als sie wieder kam, sagte sie, sie hätte vor Freude geweint, weil sie Kant verstanden habe. So etwas müsste öfter passieren: Mich erstaunt oft, wie die Menschen an manchen Tagen an den Bushaltestellen stehen und grimmig kucken. Vielleicht liegt es an mir, ich bin mir nicht sicher, aber vor allem, wenn der graue Scheißhimmel über der Stadt hängt, dann habe ich das Gefühl, dass sie nicht wissen, dass alles einfach irgendwann aufhört, dass ständig Neues passiert, und keines davon mehr ihres,und auch nicht meines sein wird. Da kann ich Geschichten erfinden, wie ich will: Keine davon wird reichen. Ich weiß, ich werde in 100 Jahren nicht mehr da sein. Aber dieser Text vielleicht. Also, liebe Leser im Jahr 2111: Ich habe keine Ahnung, wie eure Welt aussieht. Aber bitte dreht doch eine Runde auf euren Hoverboards für mich. 



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