Vor ein paar Tagen war ich als Theaterkritiker unterwegs, und musste in Celle das Stück "Ithaka. Schauspiel nach den Heimkehr-Gesängen der Odyssee" anschauen und besprechen. Da es für nachtkritik.de war, musste es noch in der Nacht fertig werden, und aus bestimmten Gründen war das für mich zu diesem Zeitpunkt nicht so richtig erfreulich. Deshalb, und weil das Celler Schlosstheater bei solchen Premieren ein, finde ich, eigenartiges Publikum hat, das noch ein bisschen härter drauf ist als anderes Premierenpublikum, und weil das so wunderbar in das Schloss passt, postete ich in der Nacht noch auf Facebook: "Wieder sehr stark: Der Drang, übers Publikum zu schreiben, und nicht übers Stück. Schlosstheater Celle, du schaffst es immer wieder." Dies ist der Text dazu, sozusagen ein Spiegeltext zu der oben verlinkten Kritik.
Heimkehrgesang
Wenn du
vorher in Wolfsburg und Lehrte warst, ist der Celler Bahnhof auch nur
irgendein viel zu flaches Betonding irgendwo in Niedersachsen mit
einer unterdurchschnittlichen Anzahl an Gleisen.
Wenigstens
gibt es einen Witz. Kurz hinter dem Bahnhof ist das Hotel Neun ¾,
ja, genau, wie in Harry Potter, nur Gleis statt Hotel, ihre Schrift
auf dem Schild haben sie da auch her.
Das Schloss. Irgendwo da drin ist ein Theater. Bild von hier. |
Also, was?
Ich komme an. Zwei Umhängetaschen, eine rechts, eine links, eine
braun, eine blau-grau, baumeln an mir rum. Ich bin müde, jetzt
schon. Der Auftritt am Tag vorher, Lesung, Luftgitarre. Eine kurze
Nacht. Bier. Den ganzen Vormittag Botho Strauß gelesen. Vier Stunden
Zugfahrt. Wenigstens bin ich nicht mehr mit in diesen Laden namens
Trinkteufel gegangen. Pete Doherty ist da mal abgestürzt, sagt das
Internet. Mich hätte das garantiert umgebracht. Wenn nicht gestern
Abend, dann jetzt.
Vom Bahnhof
bis zum Schlosstheater ist es nicht weit, eine Viertelstunde zu Fuß
vielleicht, aber es ist kalt geworden, ich dachte es sei nur ein
Berlin kalt, weil es in Berlin immer kalt ist, wenn ich da bin, aber
es ist überall kalt. Schnee. Ich bin zu dünn angezogen, als ich
losgefahren bin, war noch Frühling. Im Celler Theater läuft die
Odyssee, nach Botho Strauß, und ich soll sie besprechen. Im Moment
fühle ich mich eher selbst wie Odysseus, als er endlich in Ithaka
ankommt und feststellt, dass sie ganze Scheiße immer noch nicht
vorbei ist.
„Entschuldigung?
Was wollen Sie hier?“, fragt einer von den drei Typen, die am
Eingang des Schlosstheaters rumstehen. Es ist tatsächlich ein
Schloss, sauber restauriert, weiß angestrichen, mitten in einem
Park. Ich bin auf dem Weg an einem riesigen Bronzepferd
vorbeigekommen, und an einem alten Mann, der im Dunkeln Enten
fütterte. Überlegte, ob man eine Kurzgeschichte daraus machen
könnte.
„Äh“,
sage ich. „Ich wollte ins Theater.“
„Aber
nicht so“, sagt er.
Ich nehme
es ihm nicht übel. Ich weiß, wie ich aussehe. Augenringe. Die zwei
Taschen über den Schultern. Kann sein, dass ich noch nach Bier
rieche, und dem Rauch von gestern Abend. An mir vorbei läuft das
Premierenpublikum, die Abonnenten, die schwarzbeanzugten Herren, die
abendbekleideten Damen, diese Leute, die bei solchen Premieren immer
vorbeikommen. Wahrscheinlich sind sie nur zu gut erzogen, um die Nase
zu rümpfen, wenn sie an mir vorbeigehen. Vielleicht nehme ich mich
aber auch selbst zu wichtig. Wer weiß.
„Wenigstens
die Taschen“, sagt der eine Türtyp, „müssen Sie aber an der
Garderobe abgeben.“
Das kommt
mir entgegen. Besser, als das ganze Zeug unter einen dieser
unbequemen Theatersitze quetschen zu müssen, wo sie eh nicht
hinpassen.
„Die
Jacke aber auch“, sagt die Frau an der Garderobe, Typ
mütterlich-rundlich.
Damit habe
ich zwei Probleme. Einmal, weil ich die Jacke noch brauche. Die
Garderobe ist in der Vorhalle, der Empfangshalle des Schlosses. Zum
Theater geht es über einen Innenhof. Da, wo man auch rauchen kann.
Und draußen schneit es. Ich muss da noch lang, und ich möchte noch
rauchen. Ich möchte beides nicht nur in dem Hemd tun, das ich unter
der Jacke trage. Das ist das eine Problem. Das andere ist, dass ich
dann auch meine Mütze abgeben muss, weil Mütze ohne Jacke nicht
geht. Ich trage die Mütze schon fast den ganzen Tag. Meine Haare
sind darunter sicher plattgedrückt, das sieht sicher richtig scheiße
aus, wäre mir normalerweise auch egal, aber dazu noch der
Biergeruch, der Rauchgeruch, toll.
„Es
ist kalt draußen“, versuche ich sie zu überzeugen.
„Brandschutz“,
sagt sie. Und damit hat sich das dann auch erledigt.
„Kann
ich Ihnen helfen?“, sagt die Frau am Kartenschalter. Sie hat
löwenmäßig geföhnte Haare, mittelstark geschminkt, viel auf den
Augen, viel auf den Wangen.
„Ich
kriege eine Pressekarte“, sage ich, und versuche, irgendwie seriös
auszusehen. Ich meine, den Mann hinter mir in der Schlange kichern zu
hören.
Die Sache
ist auch die: Das alles hier ist meine Schuld. Ich hätte früher ins
Bett gehen können, ich hätte ein Hemd zum wechseln mitnehmen
können, ich hätte ein Sakko mitnehmen können, dann wäre das alles
viel einfacher. Aber ich dachte: Lieber nicht so viel mitschleppen.
Das Autorenkostüm von der Lesung gestern abend reicht ja wohl auch
im Theater, dachte ich. Anderseits hatte ich die Lesung zugesagt, als
die Pressabteilung vom Theater sich – zwei Wochen nach meiner Email
– sich noch nicht bei mir gemeldet hatte, ob man mich jetzt
reinlässt oder nicht. Serverumstellung oder so, hieß es dann. Egal.
Ich hätte mich nicht anders entschieden. Ich hätte es nicht anders
haben wollen. Geht schon irgendwie.
„Auf
welchen Namen?“, fragt die Löwenfrau.
Ich sage
ihr meinen Namen, sie fischt mit spitzen Fingern meine Karte von
irgendwo her, überrascht, dass ich die Wahrheit sage.
Ich gehe
auf die Toilette, und versuche zumindest meine Haare wieder
hinzukriegen. Vergiss es, sagt mein Spiegelbild.
Geht schon
irgendwie. Das klingt gut in der Theorie. In der Praxis nicht so.
„Entschuldigung?“,
das ist das Wort, das am meisten im diesem Theaterraum gesprochen
wird. Die Gänge zwischen den Sitzen sind eng. Dementsprechend ist
das Publikum vor der Vorstellung einer Art permanenter
Durchlass-Laola-Welle beschäftigt. Alle sind besser angezogen als
ich.
Ich bin
einer der letzten, die sich auf ihren Platz setzten. Ich wollte noch
nicht reingehen, wanderte vorher noch ein bisschen durch die
labyrintischen Gänge im Schloss. Betrachtete die Ölportraits
irgendwelcher Toter aus dem Hause von und zu Hannover. Zweisprachige
Infotafeln. Rosenstuck an der Decke. Auf jedem freien Platz sitzen
schick gemachte Rentner.
„Hallo!“,
das ist das zweithäufigste Wort, dass im Theaterraum gesprochen
wird. Es ist ein hübscher Raum, hufeisenförmig, frisch restauriertes Barock mit goldenen Säulen und
aufgemalten Blumen auf den Logenbalkonen. Über der Bühne hängt ein
Wappen, ein Löwe und ein Einhorn stützen sich auf einen Schild.
Kucken, wer sonst noch da ist. Auch: Konkubinen. Bild von hier. |
Offensichtlich
kennt hier jeder jeden, jeder begrüßt jeden, die Vorstellung ist
ein Anlass, mal wieder Freunde zu treffen. Es erinnert mich an die
Opéra Garnier in Paris, und an die riesige Treppe, die es dort gibt,
die, sagte der Führer, zur Zeit absolutistischen Ludwigs zu nichts
anderem da waren, als irgendwo da rumzustehen und zu kucken, wer noch
alles da ist. Eine einzige High-Society-Parade. In der Königsloge
stand auch ein Bett, und sie hatte Vorhänge, falls irgendeinen
absolutistischen Ludwig seine aktuelle Konkubine mal mehr
interessierte als die gerade auf der Bühne laufende Oper. Live-Oper
als musikalische Untermalung beim Sex mit der Konkubine. Das hat
Stil. Ich schaue mich um, aber es gibt hier keine Vorhänge an den
Logen. Und, soweit ich sehen kann, auch keine Betten.
„Ich
habe auch Ihren Platz“, sagt der Mann, der links neben mir sitzt,
und zeigt mir seine zwei Abonnenten-Karten. „Die eine“, sagt er,
„brauche ich aber nicht. Die können Sie gerne haben, falls Sie
ihre verlieren.“
Ich frage
mich, wer eigentlich auf meinem Platz hätten sitzen sollen. Seine
Frau? Vielleicht. Ist sie krank? Verstorben? Und jetzt bin ich der
schale Ersatz, den er hat? War das gerade ein Hilfeschrei?
„Oh,
Danke“, sage ich.
„Entschuldigung?“,
sagt jemand anders, und wir müssen alle wieder aufstehen. Ein
Päarchen rechts neben mir macht einen Witz darüber. Der links neben
mir hustet. Hustet dann überhaupt die ganze Zeit über. Und dann
geht das Licht aus: Odysseus kippt auf die Bühne, seine Kiste mit
Kriegsbeute aus Troja umklammert. Und glaubt nach der langen Irrfahrt
nicht so Recht, dass er tatsächlich schon zu Hause sein könnte. Ich
verstehe das. Gleichzeitig könnte ich aber auch einfschlafen, jetzt,
hier in den unbequemen Sessel.
„Eine
Cola und eine Brezel, bitte“. Es ist Pause, Odysseus will danach
einen Bogenwettkampf abhalten, damit klar ist, wer der Mann im Haus
ist, und die 300 Leute, in in den Saal passen strömen alle
gleichzeitig raus, von der breiten Treppe durch die engen
Schlossgangtrichter, zu der einen Theke, an der sie etwas zu trinken
bekommen können. Strauß hat den Text rhythmisch geändert, nicht
mehr diese homerischen Hexameter, trotzdem immer noch stellenweise
repetitiver Textsingsang, der mich schläfrig macht; ich brauche die
Cola. Gegessen habe ich noch nicht wirklich was. Heute morgen ein
Croissant. Auf dem Weg ein Brötchen. Salz ist auch gut. Die Frau
hinter der Theke, Studentin, wahrscheinlich, Thekenaushilfe, braucht
lange, um die Cola und die Brezel im Kopf zusammenzurechnen, und noch
länger, um mein Wechselgeld zu finden. Aber sie lächelt. Der erste Mensch, der mich hier anlächelt.
Der
Nachteil daran, Theaterkritiken zu schreiben ist, dass man alleine
unterwegs ist, und in den Pausen rumsteht wie ein Idiot. Zuhause wäre
jemand da, den ich kenne. In ein paar anderen Städten wahrscheinlich
auch, und sei es nur irgendein anderer Kritiker. Aber in Celle? Ich
kenne keinen Menschen in Celle. Ich stelle mich in eine Ecke und
betrachte den Stuck an der Decke. Florale Muster, nichts
interessantes. Alle anderen stehen rum, unterhalten sich, haben
Sektgläser. Alle in dieser Abendgeraderobe, und ich in meinem
schwarzen Hemd von gestern und einer H&M-Jeans und schlecht
sitzenden Haaren.
„Wann
haben wir das letzte Mal die Odyssee gesehen?“, fragt die Frau, die
rechts neben mir sitzt. Ihr Mann nuschelt etwas, das sich anhört wie
1984. Könnte auch ein anderes Jahr sein. 80er, auf jeden Fall.
„Entschuldigung?“, sagt wieder jemand, und alle stehen wieder
auf. Und dann geht’s los. Odysseus. Entscheidungsschlacht.
Textsingsang. Ein Bild des Publikums wird an eine Leinwand im
Hintergrund der Bühne projiziert. Irgendetwas darüber, dass wir
alle auch mitschuldig sind, ich weiß nicht, genau, an was, irgendwas
mit Kapitalismus. Ich denke: Toll, das ist das letzte, was ich
gebrauchen kann. Mich selbst in Großaufnahme sehen.
Wenn
ich eines hasse, dann ist es diese Art beim Theater einfach immer
weiter zu klatschen, dass dann alle noch zweimal, dreimal auf die
Bühne kommen, und dann hört es immer noch nicht auf. Das geht
einfach immer weiter. Das gibt es in keiner anderen Kunstform. Ich
weiß nicht, was was soll. Das hat sicher historische Gründe, keine
Ahnung. Als Odysseus sich zum dritten mal verbeugt seufze ich leise:
Nein. Der Mann links neben mir hat es gehört, er dreht sich zu mir,
lächelt, sagt: „Da haben sie Recht. Jetzt ist auch langsam mal
gut.“
Und
dann ists auch gut. Am Ende lasse ich mich treiben, von den
Herrschaften in ihrer Abendkleidung, durch die Menge, ich gehe runter
zur Garderobe, lasse mir meine Taschen geben, grüße kurz das
Bronzepferd im Park, und erwische noch rechtzeitig einen Zug nach
Hause. Auf dem Weg schenkt mir jemand eine Zigarette. Zuhause
schmeiße ich meine Taschen in die Ecke, mache mir einen Kaffee, und
fahre den Computer hoch. Noch ein, zwei Stunden, denke ich, dann ist
es vorbei, und starre kurz noch in Richtung meines Bettes. Auf dasvon Odysseus war ich immer ein bisschen neidisch.
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