Ich bekomme manchmal Anfragen, nicht so oft, wie ich es mir wünschen würde, aber doch von Zeit zu Zeit. Menschen, die ich kenne, machen kleine oder große Projekte, haben bekloppte oder weniger bekloppte Ideen.
In diesen Fall wollte jemand, den ich kenne, das Decamerone aktualisieren, es sollte ein Film werden, in dem wiederum diese neu erzählten Geschichten erzählt werden würden. Ich sollte eine dieser Geschichten aktualisieren, ich entschied mich für die fünfte Geschichte des zweiten Tages, ich weiß nicht mehr warum, aber die sagte mir am meisten zu. Ich glaube, ich fand die Lebensgefahr gut.
Ganz ehrlich gesagt: Es ist nicht meine beste Geschichte, und ich hätte mich, glaube ich, mehr von der Vorlage lösen sollen. Überhaupt ist Rucksacktouristenprosa ein eher kritisches Genre.
Ich weiß auch nicht ganz genau, was aus dem Filmprojekt dazu geworden ist. Ich hoffe jetzt einfach mal, dass der Film irgendwo dort draußen existiert, und dass ich ihn auch mal zu sehen bekomme.
Fünfte
Geschichte
In
der ein unerfahrener Rucksacktourist behauptet, dreimal in einer
Nacht in Lebensgefahr geraten zu sein, am Ende aber mehr bekommt, als
er wollte.
Party like it's 1349. Bild von hier. |
Ich
weiß nicht mehr, wie alt wir waren, auf jeden Fall waren wir jung:
Wir wollten nichts als uns abschießen. Es war nicht unsere erste
Reise, aber die erste Richtige: Wir hatten das Übliche hinter uns,
Saufen in der Ukraine, Kiffen in Holland, solche Dinge. Würde man
mich heute fragen, ich würde sagen, wir waren naiv: Wir waren
einfach losgeflogen, soweit nach Süden und so billig wie möglich.
Es ist in Palermo kein Problem an Drogen zu kommen: Ganz Sizilien
liegt ja nur einen Steinwurf entfernt von Nordafrika, im Grunde ist
Palermo eine afrikanische Stadt. Wir wollten nichts exotisches, wir
wollten nur zwei, drei Joints rauchen, vielleicht einen billigen
Rotwein dazu trinken, uns vielleicht auf Kirchenstufen legen und die
Logik hinter den Lichtern zu erkennen. Wir stellten unsere Rucksäcke
im Zimmer ab, Andre steckte ein paar Scheine in die Tasche, und wir
versprachen der Wirtin – einer ausladenden Witwe mit Marienschrein
in der jeder Ecke des Hauses - morgen zum Frühstück zu erscheinen.
Die
Gassen in Palermo saugen einen ein: Kleine, verwinkelte schwarze
Wurmlöcher, die einen immer zwar wieder raus lassen, aber immer ganz
woanders. Wir entdeckten eine Gegend, in der, obwohl es schon nach
zehn war, alle Geschäfte noch offen hatten, und nichts verkauften
als Küchengeräte aus Edelstahl, in denen sich die Lichter der
Kirchen an den Straßenecken und der Kirchen spiegelten. Palermo
feierte ein Kirchenfest: Die Kirchen quollen über vor
Lichtschläuchen, die Stadt roch nach alten Matratzen, vergammeltem
Obst, von den Märkten übrig geblieben, billigem sizilianischem
Wein, den die Zuschauer der Parade auf der Straße gelassen hatten.
Zwei,
drei Gassen weiter fanden wir die Drogendealerstraße. Ich überließ
es Andre zu verhandeln, ich stand im Hintergrund und sah zu, wie er
sein Geld herausholte, damit vor der Nase des Dealers wedelte, der
wiederum ein Päckchen herausholte, und damit vor Andres Nase
herumwedelte, Andre roch, drückte an der Plastiktüte herum, prüfte
die Konsistenz, und kaufte dann doch nicht. Ich weiß nicht mehr, wie
oft das passierte, dreimal, viermal, immer wieder streckte Andre sein
Geld wieder in die Tasche, kam zu mir zurück, redete etwas davon,
dass das alles Dreck sei, und schlug nach dem letzten Versuch vor,
was trinken zu gehen.
Das
ist der Punkt, an dem mein Erzählung unzuverlässig werden muss: Ich
würde gerne etwas erzählen, von dem ich weiß, dass es wahr ist,
aber im Grunde bin ich ein langweiliger Mensch. Mir passieren solche
Sachen nicht. Damit geht es los: Ich weiß nicht mehr, wie wir die
Bar fanden, Andre schien, nachdem er die Idee gehabt hatte, einer
Witterung zu folgen, einem Geruch aus Erdnüssen, Bier und Rotwein,
der durch die Straßen zog. Aber das ist nur eine Vermutung. Genauso
unerklärlich ist mir – vorausgesetzt, was Andre mir am nächsten
Morgen erzählte, stimmt - wie die Frau uns folgen konnte: Die
einzigen Schritte, die durch die Gassen hallten, waren unsere, das
weiß ich noch genau, an doppelte Echos hätte ich mich erinnert. Sie
muss uns aber gefolgt sein: Anders hätte sie kaum wissen können,
wieviel Geld Andre mit sich herumtrug.
Ich
sprach nicht mit ihr, ich weiß nicht, was sie zu Andre sagte: ich
sah ihn nur halb durch den verrauchten Raum, und sie von hinten,
zusammengebundenes, schwarzes Haar und Jeans, die die hinten Löcher
hatten. Ich bestellte Bier. Andre sah zu mir, lachte, und hob den
Daumen. Dann legte er ihr den Arm um die Schulter, und sie gingen.
Ich sah Andre erst am nächsten Morgen wieder. Er war ramponiert: Er
hatte keine Hose an, und sein Tshirt hatte ein großes Loch am
Rücken, wo er, wie er mir erzählte, am Rand der Gruft
entlanggeschrabbt war. Er stank nach vergammeltem Wasser. Das wird,
sagte er, vom Hafen sein. Und die Hose, sagte er, liegt sicher noch
bei Caligureta, und lachte.
Caligureta,
stellte sich heraus, war die dunkelhaarige, die Andre, wie er sich
ausdrückte, abgeschleppt hatte. Ich hatte sie kaum von vorne
gesehen, und auch nur durch einen Schleier von Kneipenrauch und
mindestens drei Bier, aber Andre erzählte etwas von einem
feingeschnittenen Gesicht, bemerkenswert für ihn, normalerweise
benutzte er, um Frauen zu beschreiben, Worte wie: Schnalle. Oder:
Fahrgestell. Seine Beschreibung von Caligureta wanderte tiefer:
Brüste, Bauch, Beine, das alles belegte er mit unsinnigen
Adjektiven, die er mal irgendwo gelesen hatte. Ihr Schamhaar
beschrieb er als buschig, aber doch sortiert. Sie hatte ihn, sagte
er, rangelassen, nachdem sie ihn durch tausend enge, kleine Gassen
gezogen hatte, deren Namen er sich nicht merken konnte, er konnte
sich auch den Weg nicht merken, er wollte auch gar nicht: Ich dachte,
sagte er, nur an das, was wir bei ihr machen würden. Sie waren weit
gekommen: Er war gerade, sagte Andre, mit der Hand in ihrem String
angekommen, da war es vorbei.
Andre
weigerte sich, an einen Plan zu glauben, einen Plan, sagte er, kann
man nicht so perfekt timen. Jedenfalls klopfte Caliguretas Mutter an
die Tür. Ich habe sie kaum gesehen, sagte Andre, sie war nur ein
verwischter Matronenschatten irgendwo am Rand meines Gesichts,
während ich versucht habe, in meine Klamotten zu springen und
Caligureta versuchte, mich aus dem Fenster zu schubsen. In seine
Hose schaffte Andre es nicht mehr, Caliguretas Mutter goss einen
Schwall sizilianischer Schimpfworte über ihm und ihrer Tochter aus,
die wiederum versuchte, ihre Mutter davon abzuhalten, Andre zu
verprügeln. Ich hielt es, sagte Andre, für das beste , zu
verschwinden. So laut, wie die war, hätte die mich wahrscheinlich
umgebracht. Er lachte. Natürlich war das eine bekloppte Idee, sagte
Andre, er merkte es, als er unten auf der Straße war: Ich hatte
keine Hose, sagte er, ich hatte kein Geld, ich hatte keine Ahnung, wo
ich war. Aus Caliguretas Fenster kamen immer noch die schreienden
Stimmen zweier Frauen. Also, sagte Andre, zog ich los. Es war spät
mittlerweile, es musste schon längst über zwei Uhr nachts hinaus
sein, und das Viertel, in dem Andre war, war menschenleer, nur hin
und wieder tauchte auf einem kleinen Platz eine Kirche auf, deren
Lichtschläuche für niemanden blinkten als für Andre, der immer
verzweifelter willkürlich in irgendwelche Richtungen abbog, solange,
bis er die Orientierung komplett verloren hatte. Dann, sagte Andre,
merkte ich, dass ich verfolgt wurde. Seine Schritte hallten in den
Gassen, und der Hall seiner Schritte wurde gedoppelt, vielleicht
verdreifacht, so genau konnte Andre das nicht hören. Als er begann
zu rennen, wurden die anderen Schritte auch schneller. Natürlich
nützte es nichts, sagt Andre, was hätte es auch nützen sollen? Ich
hatte keine Hose. Die drei – es waren drei, stellte sich dann
heraus – kannten sich besser aus als Andre: Er bog ab, und war, er
wusste selbst nicht genau wie, am Hafen herausgekommen: Man sah es
nicht, sagte Andre, keine Kirchen, keine Lichter, es war dunkel, man
roch nur: fischig, brackig, vergammeltes Hafenwasser. Ich konnte
nicht mehr nach vorne, ich konnte nicht mehr flüchten. Die drei
standen hinter ihm, Männer, Jungs eigentlich noch, nicht älter als
Andre und ich: offene Hemden ohne Brusthaare, Goldkettchen, das
alles.
Andre
erzählte nichts über die Verhandlungen, letzlich aber dürfte er
keine Chance gehabt haben: Ohne Hose und Geld mit dem Rücken zum
Wasser, eingekreist von drei Jungs, die vielleicht nicht nur
Goldkettchen hatten, sondern auch Messer. Außerdem, sagte Andre,
wollten sie mich ja nicht ausrauben oder sowas, die haben ja ganz
genau gesehen, dass ich nichts hatte. Die drei schlugen Andre ein
Geschäft vor, ein ganz einfaches: Es gab eine Kirche in der Nähe,
sie waren dort bekannt: Die Kirche nahm Straßenkinder für eine
Nacht auf. Sie selbst konnten nicht dorthin, einmal waren sie für
eine halbe Nacht dort gewesen, als man sie rausgeworfen hatte, sie
hatten im Kreuzgang offen mit Gras gehandelt. Ein bisschen was, sagte
Andre, war noch dort: Sie hatten es in einer alten Gruft versteckt,
deren Grabplatte halb eingeschlagen war, ein Bischof war darauf
abgebildet, der in einer Hand ein Schwert trug und in der anderen
einen Olivenzweig. Ich sollte hingehen, sagte Andre, und einen auf
ausgeraubter, verlorener Tourist machen, fiel mir ja auch nicht
schwer. Ich sollte in die Gruft einsteigen und das Gras rausholen,
als Belohnung hätten sie mit dann was abgegeben. Wenn dus nicht
machst, sagte einer der drei, derjenige, der an der spitzen, der
Andre zugewandten Ecke des Dreiecks stand, das sie bildeten, finden
wir dich. Dann, sagte Andre, stießen sie mich ins Wasser. Nur,
damit sie dir glauben, schrie einer Andre hinterher. Nun ja, , sagte
Andre, ich schwamm da ein bisschen rum, es war kalt, und eklig, vor
allem eklig, hast du schon mal versucht, nicht durch die Nase zu
atmen, während du schwimmst? Es dauerte eine Weile, bis Andre eine
Leiter fand, er kletterte darauf, und setzte sich in den Windschatten
eines eines Häuschens, in dem eis verkauft wurde, tagsüber waren
die Bilder der unterschiedlichen Stieleise wahrscheinlich bunt,
jetzt, nachts, im Licht der orangenen Straßenlaternen, grau und
kränklich. Das war, als mir die Idee kam, sagte Andre. Andre
schwieg, und lächelte mich an, er versuchte eine Kunstpause, und
platze dann, bevor sie richtig wirken konnte, heraus: Ich bin zu
dieser Kirche. Ich hab ein bisschen geheult, weißt schon, hab einen
auf armer, verirrter Tourist gemacht, gestunken habe ich auch. Die
haben mich erstmal in ein Bett gesteckt. Da bin ich dann raus, und
durch diese Gänge geschlichen, die Kirche, nachts, von draußen,
durch diese Butzenscheiben, kam das Licht von diesen Schläuchen.
Alles blinkte da drin. Aber ich hab die Gruft gefunden. Ich bin rein,
das ging gerade so, hab mir dabei den Rücken aufgeschrammt. Da war
niemand drin, keine Knochen oder so, nur ein weiches Päckchen. Die
hab ich eingesteckt, und bin erstmal fast nicht wieder rausgekommen
da. Hat wehgetan. Aber ich habs geschafft. Ich bin da raus. Und
dann?, fragte ich. Bin ich hierher, sagte Adnre. Er zog sein Tshirt
aus, und ich sah, dass er einen Plastikbeutel über Brust und Bauch
geklebt hatte. Das sind, sagte er, mindestens 500 Gramm. Wir sollten
hier verschwinden. Aber wollen wir erstmal frühstücken? Ich hab
Hunger.
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