Sonntag, 2. Dezember 2012

Rumlaufen und Beobachten


Menschen waren mir schon immer ein Rätsel, vor allem, wenn sie Dinge tun. Ich weiß nicht, ob es anderen auch so geht. Ich hoffe schon. Im Frühling 2011 hatte ich diese wunderbare Idee zu einer wöchentlichen Reihe im TITEL-Magazin, die "Passantenpassagen" heißen sollte: Ich wollte Menschen durch die Stadt verfolgen. Sie dabei beobachten. Protokollieren, was sie dort tun. Wo sie hingehen. Vielleicht dem Rätsel noch eine Ebene hinzufügen. Vielleicht einfach sehen, was passiert, wenn ich sie - zumindest für mich und die Leser - ganz kurz mal heraushebe aus dieser anonymen Masse, in der sie sich bewegen. Über die Zeit hätte sich ein, denke ich, schönes Kaleidoskop menschlicher Verhaltensweisen ergeben, ein Protokoll urbaner Bewegungsweisen, wenn man es ganz hoch hängen möchte. 

Das Ganze gedieh soweit, dass ich einen Prototyp schreiben sollte. Leider entwickelte es sich dann nicht weiter, irgendwie hatten alle gerade Urlaub, ich hatte dann anderes zu tun, die Idee schlief ein, und irgendwann verfolgte ich sie nicht mehr weiter. Einerseits finde ich das schade. Andererseits ist das vielleicht auch ein Projekt gewesen, dass  durchaus psychopatische Züge hatte.




Passantenpassagen (1): Ein Schlachtschiff von Mensch

Jan Fischer beobachtet für seine Reihe "Passantenpassagen" Menschen, die glauben anonym zu sein: Mitten in der Stadt. Notizen einer Verfolgung.


Aber auch sonst. Foto von mir.
Sie steigt am Hauptbahnhof aus der S-Bahn: Kurze, aschblonde Haare, mit schwarzen Highlights, und bei jedem Schritt schwankt sie hin und her, als gäbe es auf dem Bahnhofsvorplatz Wellengang, den sonst niemand spürt. Sie geht schnell, schneller, als man es von jemandem erwarten würde, der so ausladend ist:. Sie hält sich nicht lange an einem Ort auf: Sie überquert den Bahnhofsvorplatz, hat schon die Dönerläden, die ihn umsäumen hinter sich, schaut nicht nach rechts oder nach links, sie weicht niemandem aus: Die Leute weichen ihr aus. Sie bewegt sich, als wären alle anderen ihr ein Ärgernis, als sei die pure Anwesenheit anderer Menschen um sie herum eine Provokation. Sie flaniert nicht, sie geht nicht spazieren: Diese Frau hat ein Ziel, und mit jedem ihrer schwankenden Schritte baumeln ihre Arme vor und zurück, als könne sie einfach alle, die ihr im Weg stehen mit ihren gewaltigen Gesten wegrudern. Ein Schlachtschiff von Mensch.


Das Jackeninnenfutter: Leopardenprint

Es ist einer der ersten warmen Tage im Jahr, sie trägt eine schwarze Jacke, an deren Kapuze ein grauer Fellrand ist, sie trägt die Jacke offen, das Innenfutter hat ein Leopardenmuster. Die Jacke ist ihr zu groß, alle zwei oder drei Schritte rutscht sie ihr von den Schultern, dann hält sie an, schnauft, und zieht die Jacke wieder hoch. Die Jacke ist zu warm für diesen Tag. Sie wird sie heute morgen angezogen haben, als es noch kühl war, sie wird schon den ganzen Tag unterwegs sein, sie wird etwas zu erledigen haben. Vielleicht hat sie Kinder, vielleicht einen Mann, vielleicht muss sie nach Hause, viellleicht ist sie schon zu spät: Sie hat es eilig, anzukommen, wo auch immer: An der Ampel wartet sie nicht, bis es grün wird, die meisten anderen stehen noch, sie zieht ihre Jacke über die Schultern, schaut über die Straße, als wolle sie die Autos dazu auffordern, nicht anzuhalten, sondern sie anzufahren, nur um zu sehen, wer stärker ist. Sie schlängelt sich dann doch zwischen ihnen durch, weiter gerade aus, mitten ins Herz der Stadt, so sehr Herz, wie der 50er-Jahre-Beton eben ein Herz sein kann: Die Alten sitzen in den Cafés in der Sonne, die jungen Mädchen geben sich im Schmuckgeschäft die Klinke in die Hand: Das Wetter ist endlich wieder gut, und mitten drin eine Frau, die immer nur gerade aus geht, die in Loch in den Strom reiß, in dem ständig jeder jedem ausweicht. Nur sie nicht.

Der Verkauf geht weiter

Am Rand der Altstadt ist der Kaufhof, sie stößt die Flügeltüren auf, und bleibt nicht weit vom Eingang vor einer Auswahl von Kuscheltieren stehen, die hauptsächlich rosa sind, zieht die Jacke über die Schultern, schaut sich um. Sie geht zur Rolltreppe, das Untergeschoss wird gerade umgebaut: In der Taschenabteilung liegen die Taschen in Drahtgestellen vor rohem Beton, überall hängen Schilder, auf denen steht, dass der Verkauf weiter geht. Die Frau geht auf die Taschen zu, wirft im Vorbeigehen einen Blick auf die Herrenschuhe, packt eine Tasche, hält sie hoch wie ein unartiges Kätzchen, lässt sie wieder in das Drahtgestell fallen: Das macht sie zwei, dreimal, und stürmt wieder auf die Rolltreppe zu, fährt wieder hoch, stößt wieder die Flügeltüren auf, läuft denselben Weg zurück zum Bahnhof. Dort steigt sie in die S-Bahn, und fährt dorthin zurück, wo sie her gekommen ist. Ihr Ausflug hat noch nicht einmal eine halbe Stunde gedauert.

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