Sonntag, 25. November 2012

Bestie Mensch


Um bei der Festivalzeitung der Schillertage 2007 mitmachen zu dürfen, musste man einen Essay einschicken, das Thema war: "Bestie Mensch". Damals geisterten Begriffe wie "Prekariat" und "Lebensprojekt" durch die Medien,und kurz danach kam dann die digitale Bohème (nennt sich jemand heute noch so?) und nun ja, es wurde ein Text daraus. Ein Zeitgeist-Text, klar, der, wenn man ihn heute liest, wirkt, als sei er im vorigen Jahrhundert entstanden. Aber: ich hatte viel Spaß auf den Schillertagen. Hier ist der Text:



Bestie Prekariat
oder: die kurzen, knackigen David-Lynch-Momente des Lebens


Eine Bestie. Bild von hier
Vor ein paar Tagen saß meine Mitbewohnerin L. weinend am Küchentisch. Sie hatte einen dieser kurzen, knackigen David-Lynch-Momente. Einer dieser Momente, in denen alles sich neu sortiert. L. ist Teil einer Generation, die sich selbst den Namen „Prekariat“ gegeben hat, eine Generation, die in einem ständigen Provisorium lebt. Arbeit, Liebe, Freizeit, alles zeitlich begrenzte Projekte um ein viel größeres Projekt zu realisieren: Das Lebensprojekt. 

L.s  Arbeitsprojekt überlappte sich mit einem Liebesprojekt, das Freundesprojekt verlangte Aufmerksamkeit, die das Freizeitprojekt gerade nicht hergab. Das fragile Arrangement ihres Lebensentwurfes war ins Wabern geraten. „Die Zeitschrift Neon ist das Zentralorgan dieser Generation“, analysierte die  „Tempo“, und „Die Lounge ist ein Dauerzustand, alle sind irgendwie kritisch, aber auch irgendwie angepasst“. Die „Tempo“ nannte das Phänomen „Eigentlichkeit“. Nach dem Label „Prekariat“ bekamen verschiedenen Ausformungen noch wohlklingende Namen wie „Urbane Penner“, „Digitale Boheme“. Das Ganze hatte etwas mit Latte Macchiato zu tun und war ungefährlich. Was die Beobachter bis jetzt allerdings vergessen haben, ist, dass die Eigentlichkeit nur die menschliche Komponente des Prekariates ist. Die bestialische Komponente blieb weitgehend unbeachtet.



Folgt man Google, so ist die berühmteste Bestie die „Bestie von Gévaudan“, die zwischen 1764 und 1767 in Südfrankreich rund hundert Menschen tötete. Zugeben, dabei handelte es sich mutmaßlich um einen Wolf. Den zweiten Google-Treffer belegt ein Buch namens „Bestie Mensch“ von Thomas Müller, österreichischer Gerichtsmediziner. Das Buch handelt von seinen ekelhaftesten Fällen. Bestien und Mörder werden ohne Zögern gleichgesetzt. Das Label „Bestie“ ist deshalb zwar beängstigend, ein Tier ist unberechenbar und gefährlich. Andererseits aber ist es auch beruhigend: Dies sind Bestien, ich bin es nicht.  Die Bestie ist mit dem Wort bezwungen. Thomas Müller zitiert George Bernhard Shaw, der sagt, dass jeder Mensch zum Mörder werden kann, also auch jeder Mensch zur Bestie, und sei es nur für den Moment des Mordes selbst, den irrationalen Augenblick, der den Menschen zum Tier macht: Die kurzen, knackigen David-Lynch-Momente. 

Bestie ist ein Label für alles, was irgendwie unberechenbar, kraftvoll und gefährlich ist. Das Prekariat befindet sich noch nicht in dieser extremen Variante der Bestialität, eher in einer Vorstufe: Noch hat sich die Bestie nicht gezeigt. Was George Bernhard Shaw auch meint, ist, dass die Bestie in jedem von uns verborgen ist und nur auf die richtigen Umstände ihrer Epiphanie wartet. Beim Prekariat hat es den Anschein, als würde dieser Moment nie kommen: Eine breite Basis, die weder Geld hat noch Zukunft, sich von Provisorium zu Provisorium hangelt, genug Gründe für einen Befreiungsschlag, oder wenigstens ein paar ernstgemeinte Forderungen an die Verantwortlichen. Dabei ist genau das schon die bestialische Ausformung. Wenn die „Tempo“ sagt, dass das Prekariat aus „Jeinsagern“ besteht, ist das ähnlich wie die Behauptung, Pop der 80er wäre unpolitisch. Stimmt schon, hat aber Gründe. 

Genau wie die Musik der 80er durch die Abwesenheit von Politik ein politisches Statement machte, ist die „Eigentlichkeit“ nichts als eine Verteidigungsstrategie gegenüber einer Welt, die das Prekariat aus den Medien kennt. Es weiß, dass der Protest, die Politik nicht viel bringen, dass Aufstände zum Scheitern verurteilt sind. Das ist nicht seine Stärke. Es hat ausreichend ferngesehen um zu wissen, dass man mit den fifteen minutes of fame nicht viel erreicht. Es ist gerade die „Eigentlichkeit“, welche die Stärke des Prekariates ausmacht: Anpassen. Erdulden. Lächeln. Trotz widriger Umstände immer irgendwo Geld für den Latte herbekommen. 

Das Prekariat ist eine Masse, die gelernt hat, sich an der Basis der Gesellschaft elegant zu bewegen. Die sich durchlaviert und so angepasst ist, dass sie überall sitzt, überall ihre Praktikanten, Start-Upper, Kleinstkulturschaffenden und Laptop-Caféhäusler hat, eine Massenbewegung, welche die Medien von unten infiltriert hat. Eine Generation, die mit dem Computer geboren wurde, die sich so gut in der Medienwelt auskennt, die sich so traumwandlerisch sicher im Internet bewegt, dass sie ihre Stärke hinter medialen Etiketten verstecken kann. Eine Generation, die sich langsam aber sicher ihrer eigenen Existenz bewusst wird und begreift, dass irgendwas schief läuft. 

Wie die Bestie aussieht, wenn sie ihre Zähne zeigt, weiß man immer erst im letzten Drittel des Films. Bis dahin sind  ihre wichtigsten Fähigkeiten Geduld und Tarnung. Die Bestie zeigt sich erst, wenn es zu spät ist. Der David-Lynch-Moment. Das haben wir von Hollywood gelernt, und wir warten darauf. Am nächsten Tag lächelte L. übrigens wieder. Jemand nettes aus dem Freizeitprojekt hatte es ins Liebesprojekt geschafft.


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