Montag, 26. November 2012

Nachtwache


Ich hatte ein paar Nebenjobs, gute, schlechte, langweilige, spannende, im Großen und Ganzen aber wahrscheinlich nichts besonderes: Nebenjobs eben. Einer der anstrengendsten, gleichzeitig auch entspannendsten war der Nachtwächterjob auf der CEBIT 2008: Ich musste einen Stand bewachen, und durfte mich so wenig wie möglich wegbewegen. Also lungerte ich auf den standeigenen Sofas herum, schaute die ganze Nacht Low-Budget-Horrorfilme auf den Bildschirmen, auf denen tagsüber die Werbepräsentationen liefen, und drehte - zur Freude der anderen Nachtwächter - hin und wieder, in den langen, dunklen Stunden zwischen fünf und sechs Uhr morgens die Musik so sehr auf, dass die ganze Halle 4 beschallt wurde. Das Ganze dauerte eine Woche, und in einer Nacht habe ich ein Protokoll davon angefertigt. Ich hatte nichts Besseres zu tun.


Wenn es Nacht wird auf der CEBIT. Ein Protokoll

20:30
Ein Nachtwächter. Bild von hier
Bis vor fünf Minuten lungerte noch eine ganze Sammlung von Anzugtypen auf den weißen Sofas rum. Jetzt sind sie gegangen. Heute Abend ist hier Konzert, irgendeine Stimmungsband spielt Partyblues, und immer wieder das absurde Bild, wie die Anzugtypen hier herumlaufen mit quietschbunten Cocktails in der Hand. Ich kann es nicht sehen, aber es sieht sicher noch viel absurder aus, wenn diese Anzugtypen dann mit ihren bunten Cocktails sich im Takt zu dem Partyblues wiegen (mehr tun sie sicher nicht, der Sänger auf der Bühne ruft immer wieder nach „Stimmung, Leute, Stimmung“). Jetzt singen alle diese Anzugtypen nach Aufforderung des Sängers mit: „Hey Mama, was ist denn hier bloß los“, dem kann ich mich nur anschließen. Was ist hier bloß los? Die Leute hier vom Stand sind mir zwar nicht sympatisch, das nicht, aber ich kann nicht anders als zugeben, dass sie welche von den Guten sind: Ich darf am Stand rauchen, mich am Bier im Kühlschrank bedienen, ich darf mich hier auf die Sofas fläzen, wie ich will, ich darf meinen Laptop mitnehmen und Musik hören. Die sind wirklich von den Guten, aber eben auch gewinnorientiert, das ist vielleicht deren Fehler. Sami, der Nachtwächter von Gegenüber, darf das alles jedenfalls nicht. Das einzige, was er darf, ist lesen. Aber auch das am Besten im Stehen. Ich weiß nicht, wie er das aushält, und seine einzige Ablenkung ist, wenn wir uns zwischen unseren Ständen treffen und kurz mal eine rauchen, er verbotenerweise. Sein Chef, erzählt er, patroulliert hier nachts rum und kontrolliert, ob er auch wirklich diese ganzen Verbote einhält. 
Ich will nicht politisch werden und irgendetwas über das geknechtete Proletariat erzählen, darum geht es nicht, aber ich bemerke, dass meine Sympathie nicht den Leuten hier vom Stand gilt, die, obwohl welche von den Guten, mich doch immer mal von oben herab behandeln. (Meine Genugtuung heute: Beyza, die dauerschleimigsympathische PR-Frau bat mich, eine Pressemitteilung zu schreiben, als sie erfahren hat, was ich studiere. Sie fand sie gut, und zeigte sie ihrem Chef, der sie auch gut fand und mir ganz überrascht die Hand schüttelte. Das hatte er nicht erwartet.) 
Meine Sympathie gilt denen, die hier wie ich Standwache schieben, der Putzkolonne, die hier die ganze Nacht wischt und saugt, und meine Sympathie gilt ihnen, weil sie mich nicht von oben herab behandeln, sondern mich freundlich und gleichberechtigt grüßen und mal im Vorbeigehen mit mir quatschen, und das kommt so natürlich, dass ich gestern Nacht ganz gerührt war, als eine müde, lächelnde Frau mich ganz verlegen vom Stand schickte, weil sie ihn noch wischen musste, und sie freute sich, weil ich mich freundlich bei ihr bedankt habe, und mitfühlend sagte, dass diese weißen Böden wirklich die Hölle sind, wenn man sie putzen muss. Klein, natürlich, aber es tut gut, behandelt zu werden wie ein Mensch, und nicht wie ein Untergebener. 




21:04
Sie rufen Zugabe.

21:05
Sie bekommen ihre Zugabe.
“Feuerzeuge raus. Schämen Sie sich nicht, Sie sind doch hier, um gesehen zu werden“, sagt der Sänger, bevor der „Freiheit“ von Marius Müller Westenhagen anstimmt. Alle Anzugtypen singen: „Freiheit ist das einzige was zählt/Freiheit ist die einzige, die fehlt“. Das ist eine so schöne, so bittersüße Szene. 

21:09
Direkt danach singen alle mit :“Johnny Walker, du hast mich nie entäuscht/Johnny, du bist mein bester Freund“. Wer auch immer da auf der Bühne steht, ich würde ihm gerne die Hand schütteln und ihm sagen, dass er ein großer Künstler ist. 

21:24
Sie spielen in einem nicht identifizierbaren Blues-Stück ein Gitarrensolo: Die Nationalhymne. Ich weiß nicht, was ich damit anfangen soll. 
Gerade war ich auch auf Toilette und habe mir angesehen, wie sie tanzen. Ich dachte immer, Theaterleute tanzen komisch, aber im Gegensatz zu den Leuten hier gehen die wenigstens aus sich raus. Das sieht vielleicht lächerlich aus, hat aber wenigstens eine gewisse Größe.


22:31
Zwei Putzfrauen waren hier, und das ist immer sehr schön, weil sie untereinander lachen und scherzen, mit einem gewissen Fatalismus, und sich darüber beschweren, dass der Stand komplett weiß ist, und so blöd zum Saubermachen. 
Das schlimmste an solchen Nachtschichten ist ja nicht, dass man kein Tageslicht sieht, sondern dass man (oder: ich) mit niemandem reden kann. Entweder sind das oberflächliche Gespräche, oder gar keine. Und wenn ich dann mal zuhause bin, bin ich schnell genervt, wenn ich mit anderen Menschen reden muss oder etwas mit ihnen tun. Würde mich am liebsten einschließen und mit niemandem reden, jetzt die ganze Zeit, aber das ist natürlich auch Blödsinn. Ich lebe ja gerade auch in einer umgekehrten Welt, im Moment. 

0:27
Die Zeit vergeht langsam heute, und meine Augenlider werden jetzt schon schwer. Gerade ein Brötchen mit Knoblauchforelle gegessen, es das Brötchen nannte sich Maya-Brötchen aus Maismehl, lecker, aber es war bröselig. Die Putzkolonne hat jetzt Feierabend. Es gibt sicher schlechtere Jobs. Irgendwas wollte ich gerade noch schreiben, ich weiß nicht mehr was, jedenfalls wird es langsam ruhiger hier, und alles hier ist so weiß, dass ich ständig Angst habe, irgendetwas dreckig zu machen. Ich esse und rauche wie auf Eiern hier, man sieht alles sofort, sogar kleine Häarchen auf dem Boden.

1:39
Mit Sami von Gegenüber einen Kaffee getrunken. Ich überlege, ob ich lieber den Apfel oder lieber noch ein Fischbrötchen essen soll, wahrscheinlich jetzt lieber eher den Apfel, dann kann ich mich noch auf das Brötchen freuen. Gerade haben sie die Lichter ausgemacht, jetztt ist alles dunkel hier bis auf die Sparbeleuchtung aus den einzelnen Messebutzen. Wenn das Licht aus ist, fühlt man sich gleich viel mehr allein. Das hat auch was Gutes, ich mag Alleinsein, aber, das fällt mir gerade auf, lieber nicht erzwungenes Alleinsein. Ich will damit aufhören können, wann ich will. So, jetzt Apfel essen.


2:09
Der Apfel hieß Honeycrunch und war lecker.

2:49
Ich bin müder als die letzten Tage, ich weiß nicht, woher das kommt. Schwere Augenlider. Vielleicht schlecht geschlafen. Dabei kommt die schlimme Zeit noch: Zwischen 4 und 6, die langen, dunklen Stunden bevor es morgen wird, bevor jemand auftaucht, bevor man auch nur ein bisschen hoffen kann, dass alles bald zu Ende ist.


3:25
Schokolade und Musik sind sicherlich Erfindungen, die von einem anderen, schöneren Ort zu uns gesandt worden sind. Auf jeden Fall eine wunderbare Kombination. Das macht wach und Spaß und jetzt fläze ich mich in den Sessel und lese in der „monde diplomatique“ einen schönen Artikel über die Kreuzfahrt eines europäischen liberalen Journalisten mit amerikanischen Konservativen. So einen Artikel möchte ich auch mal schreiben. Danach was über den Niedergang von HipHop-Mixtapes, das ist auch schade. 
Ich habe mal ein Interview gelesen, in dem Tom Waits gefragt wurde, wann er das letzte mal glücklich war, und er nannte ein Datum irgendwann in den 70ern, um ein Uhr nachts, er hörte Radio und spülte Teller. Es gibt immer mal wieder solche Momente, ein gutes Lied kommt, eine guter Artikel in der Zeitung, kuschelige Momente, in denen es nicht schlimm ist, mitten in der Nacht hier rum zu sitzen und mit der meisten Arbeit durch zu sein und für die andere zu müde. Zwei schwarze Nachtwächter sind vorbeigegangen und haben wunderbares Kolonialfranzösisch geredet, das ich so gerne höre, weil es mich gleichzeitig an Marseille und an Mombasa erinnert. Hier gibt es Situationen, in denen ich mir selbst genüge, Jemand, den ich kenne sagte mal zu einer Jacke, die allein an einem Jackenständer hing, sie genüge nur sich selbst, so ähnlich fühle ich mich, hier, jetzt gibt es Situationen, in denen es einfach nicht mehr braucht, als das, was da ist. Es gibt nichts hinzuzufügen oder wegzunehmen. Wäre ich woanders, wäre es anders. Das ist nicht unbedingt unangenehm, eine Jacke an einem Jackenständer zu sein, aber es ist auch nicht das Tollste, was einem passieren kann. Einen kleinen Schluck fast kalten Kaffee habe ich noch.

3:39
Eigenartige Motiverkettungen heute Abend. Sami gegenüber ist, glaube ich, Libanese (vielleicht in 2. Generation, wer weiß) jedenfalls erinnert er mich an alle drei oder vier Libanesen, die ich irgendwo mal kennengelernt habe. Das liegt einmal daran, dass er dieselbe Halbglatze bekommt, die alle Libanesen, die ich kennegerlent habe auch hatten, und dann an seinem Uniformsakko, es ist blau und sieht ähnlich aus wie das, was mein libanesischer Chef in Disneyland getragen hat ( er mochte Deutschland, sagte er immer, weil es dort, wie er meinte von BMWs und willigen Frauen nur so wimmelt. Das verstand er unter paradisischen Zuständen). Jedenfalls liest der libanesische Sami „Shalimar, der Narr“, das ist von Salman Rushdie und darin geht es um muslimischen Terror und den christlichen Gegenterror aus den USA, und gerade las ich in der "monde diplomatique", dass es unter amerikansichen Konservativen eine Art von folkloristischem Glauben ist, dass Europa bis 2015 von Muslimen überrannt wird, während gleichzeitig auf dem mp3-Player (im Zufallsmodus) ein Multikultilied von Massilia Sound System kam, in dem es heisst, ist doch egal welche Nation, hauptsache toller Mensch, und ich lese gerade ein Buch von Etgar Keret, der wiederum jüdischer Palästina-Bewohner ist (und, der nebenbei gesagt, auch eine libanesische Halbglatze hat, ich glaube, die These muss ich nochmal überprüfen). Erstaunlich, was sich hier an Welt versammelt hat, und allen ist es völlig egal. Danach kam auf dem mp3-Player „The Drugs don’t work“, auch nett.

3:57
Ich glaube mit das Schlimmste bei solchen Sachen ist, dass man auf sich selbst zurückgeworfen ist. Deshalb versuche ich es ja mit Ablenkung, z.B. schreiben. In einem Buch von dem Anwalt, der die Sportfreunde Baader-Meinhoff damals verteidigt hat, hat er behauptet, man hätte die RAF-Leute im Gefängnis zur Folter in weiße, komplett reizfreie Räume gesteckt. Wahrscheinlich stimmt das hinten und vorne nicht,vielleicht doch, wer weiß, aber dieser Anwalt behauptete dann, einer wäre nur nicht verrückt geworden, weil er in der Lage war, einen schwarzen Knopf reinzuschmuggeln und sich damit immer neue Spiele ausgedacht hat. Das ist mir im Gedächtnis geblieben, unabhängig davon, ob das jetzt wahr ist oder nicht, finde ich das eine extrem nachvollziehbare Geschichte. Wenn man komplett auf sich selbst zurückgeworfen ist, dann wird’s meistens schlimm. Ich habe nichts vor mir zu verbergen, oder es liegt so tief, dass ich es nicht weiß, auch wenn ich gerne markiere dass ich Alleinsein mag und am liebsten nie wieder mit einem Menschen reden würde und dann zurfrieden wäre, ich weiß natürlich, dass das Blödsinn ist, jedenfalls würde ich glaube ich spätestens nach drei Tagen nach irgendeinem sozialen Kontakt hungern. Ich werde dann seltsam. Ich beginne nicht, mich zu hassen, aber alle anderen, eben, weil ich in meiner Welt alleine bin und sich dann alle Maßstäbe nach einem selber richten, vielleicht entlebt man (wieso falle ich, wenn ich über mich schreiben will immer in dieses allgemeine man?) sich dann von der Welt, man versteht sie nicht mehr, weil sich der Fokus irgendwie anders ausrichtet. Man lebt sich auseinander mit allen anderen. Ist das so richtig?

4:48
Forellenbrötchen Nr2. gegessen. Und jetzt? In meiner weißen Butze, im Licht von ein paar Neonröhren. 

5:33
Es wird schlimm. Ich werde wieder müde, oben auf die Oberlichter pladdert Hagelregen. Zwischen 4 und 6, das sind die dunklen Stunden, in denen sich selbst die ewig schwatzenden unter den Nachtwächtern zurückziehen und nichts mehr sagen, wo alles wirklich unheimlich ruhig ist, wo man jeden einzelnen Tropfen an der Decke hören kann, und jedes Gähnen und Husten hier in der Halle. 6 Uhr ist so eine Marke, und selbst dann dauert es noch eine oder zwei Stunden, bis jemand da ist und ich gehen kann. Aber ab sechs ist der Zeitpunkt, wo es Sinn macht zu sagen: Jetzt noch zwei Stunden, das ist eine Zeitspanne, mit der ich etwas anfangen kann, mit der ich rechnen kann. Aber das hier, das Schreiben, das hält auch ein bisschen aufrecht, lässt die Zeit ein bisschen schneller vergehen, macht alles auch ein bisschen sinnvoller. 

6:18
Sami war da und sagt, er kämpft gerade massiv gegen das Einschlafen. Ich nicht mehr, im Moment, und, wie gesagt, ab 6 ist die Hoffnung da, um 7 fange ich an, hier ein bisschen aufzuräumen, und von da ist es nur noch ein Katzensprung. So rechne ich hier. Vor dem Stand ist keine kleine Nachwächterversammlung im Gange, und sie meckern über ihr Gehalt, über die Welt, sie versuchen, gegen die allgemeine Langeweile und Müdigkeit anzukommen. Ach ja. Das ist alles schon ein bisschen quälend. 8, 9 Stunden wären kein Problem, 12 ist schon eine Menge. Obwohl es auch nicht so viele mehr sind, aber das sind tatsächlich die langen, dunklen Stunden auf die es ankommt. Ich will nicht lügen. Ich bin auch müde, und das, was ich hier schreibe sollte vielleicht nicht mehr so ernst genommen werden. Aber es hilft, und wenn ich die nächsten 1 ½ Stunden abwechselnd rauche und schreibe, ist es nicht mehr so schlimm. Ganz und gar nicht mehr so schlimm. Es regnet immernoch, glaube ich. 

6:41
Endzeit. Sami war da, und sagte, 14 Stunden, das ist schon eine Menge. Der andere Nachwächter, der hier immer mal rumschleicht, ist schon seit sechs Uhr abends da. Der sagte, er muss auf Stühle aufpassen, er geht immer um sie rum, und achtet darauf, dass niemand sie klaut. Das hat schon was abdsurdes, was unverständliches. 

6:56
Sah gerade auf die Uhr, und fand es unglaublich, dass die Zeit so langsam vergeht, sagte ich ja, jetzt, in den letzten zwei Stunden, das fühlt sich an wie fünf. War auf Klo, was auch immer eine spannende Abwechslung ist. Es gibt hier einen Stand, der sieht ein bisschen aus wie eine Burg und ist schwarz. Da sitzt die ganze Zeit ein Typ drin, der aussieht, als hätte er noch nie mit einem Mensche ngesprochen. Immer, wenn dran vorbeigehe, dann schaut er mich feindselig an. Ein paar Häuschen weiter gibt es in einer Butze eine rote Sitzecke, da hat sich gerade eine Frauenrunde mit zwei weiblichen Nachtwächtern gebildet, die sitzen in den roten Sesseln und teilen sich eine Dose Pringles. Direkt daneben ist ein Rentner, der gerade sein Radio angestellt hat und irgendwelche Schlager hört. 

7:18
Noch ein kleiner, letzter Eintrag, bevor ich den Rechner ausmache, ein bisschen aufräume, die paar Tabakkrümel und Haare unter die weißen Sessel schiebe, damit es wieder klinisch rein aussieht. Ich denke gerade daran, vielleicht noch ein Bier aus dem Kühlschrank zu nehmen und es dann auf dem Rückweg zu trinken, aber ich glaube, dazu bin ich zu feige (nicht, es zu nehmen, sondern, es frühmorgens im Zug zu trinken, das ist irgendwie komisch).

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