Sonntag, 25. November 2012

Mickys Arme


Ich habe einmal ein Praktikum gemacht, bei Hitradio Antenne Niedersachsen, eine nette Sache, im Großen und Ganzen (ich habe gelernt, selbst noch aus den komplexesten, längsten Statemens 20-Sekündige Worthülsenschnipsel zu machen), und richtig schön wurde es, als mir anderthalb Wochen hintereinander die Nachtschicht zugewiesen wurde. Da sitzt man dann als Praktikant alleine und achtet darauf, dass der Automat richtig arbeitet, was er immer tat, als ich da war. Das war ruhig, entspannend, bis auf den einen oder anderen Verrückten, den man da manchmal in der Hotline hatte. Ich habe auch mal darüber gebloggt. 

Ich habe zu dem Zeitpunkt auch viel von Jean Baudrillard gelesen, hauptsächlich Simulacra and Simulation. So ist der nachfolgende Text entstanden: Ein Produkt der langen Nachtschichten, als Hommage an Baudrillard - die gleichen archaischen Themen und Worte, ähnliche Gedanken - veröffentlicht auf einer schon längst toten Website eines untergegangenen Projektes namens Zeitdenken.de, hier nochmal als Volltext-Textblock. 

Außerdem ist es das wissenschaftlichste, was ich je geschrieben habe. Aber das bedeutet, glaube ich, nichts. Hier ist es:


Schnee in Disneyland

Im Winter 2002 habe ich in Disneyland Paris gearbeitet. Nein, ich war nicht Micky Maus. Die wird nur von Frauen gespielt, Männer passen nicht in das Kostüm. Ich habe als Verkäufer gejobbt. 

Bild von hier


Als ich dort ankam, wurde ich zuerst auf einen Lehrgang der sogenannten Disney-Universität geschickt. Dort wurde uns Neulingen erklärt, was eigentlich „Disney Magic“ bedeutet. Es ist das Gefühl, das man hat, wenn man den Park betritt und feststellt, dass nichts echt ist. Uns wurden Filmauschnitte gezeigt, damit wir später die Kunden, die eigentlich Gäste heißen, beraten könnten. Mal ganz abgesehen davon, dass wenig zu Disneys Cartoonproduktion in den Jahren des Zweiten Weltkriegs gesagt wurde, erfuhr ich nur eine neue Sache: Die Menschen, die Disneyland gebaut haben, nennen sich „Imagineers“: Ingenieure der Imagination. Und sie leisten ganze Arbeit. Jedes der Disneythemenländer hat sein eigenes System aus Begrifflichkeiten und ist fast komplett abgeschottet von den anderen Themenländern. Jedes ist eine Welt für sich. Nur bestimmte Ortsmarken sind immer zu sehen, zum Beispiel das Dornröschenschloss, dessen rosa Farbe speziell dafür konzipiert ist, auch bei grauem Wetter zu leuchten. Außerdem ist das Schloß so gebaut, dass es von der Main Street aus gesehen im Norden liegt. Das ist die Perspektive, aus der es am häufigsten fotografiert wird, und deshalb soll die Sonne nie dahinter stehen. 




Man kann sich Disneyland als ein genau berechnetes und ausgeklügeltes System vorstellen, in dem das Chaos keinen Platz hat. Das gilt auch für die Mitarbeiter (nein, sie heißen nicht Angestellte); vom Kartenabreißer bis zu Dornröschen gibt es ein genaues System aus Hierarchien, ein genaues System aus Verhaltensmaßregeln, die, genau wie die Bauweise Disneylands, nur einem Zweck dienen: Die Wirklichkeit auszusperren. Disneyland braucht die Wirklichkeit, um als Gegenentwurf dazu existieren zu können.

Man kann aber auch ohne Probleme das Bezugssystem wechseln und sagen: Die Welt braucht Disneyland, um existieren zu können. Disneyland ist eine Rückversicherung, dass da draußen eine andersartige Welt ist. Denn Disneyland beweist dadurch, dass es sich um eine Gegenwirklichkeit - oder eine Simulation von Wirklichkeit- handelt, der Welt ständig ihre Existenz.

Im Disney-Universum gehört Schnee zu Weihnachten. Deshalb wurde alle halbe Stunde eine Schneesimulation über der Main Street ausgeschüttet, ein Seifenflockengemisch, das echtem Schnee tatsächlich verwirrend nahe kam. Die Main Street ist als Simulation des viktorianischen England konzipiert, deshalb passt Schnee gut dorthin.

Der Winter 2002 war der schneereichste Winter seit 10 Jahren in Paris. Mit brutaler Gewalt brach das Unkontrollierbare ein. Die Gegebenheiten verschoben sich: Plötzlich lag der Schnee nicht mehr dort, wo er hingehörte. Er lag auch in der Zukunft (Discoveryland), wo er niemanden störte, trotzdem aber befremdlich war, und er lag im Urwald (Adventureland), wo er auf den Palmwedeln zwar schön aussah, aber komplett fehl am Platze war. Die Gäste waren desorientiert, geschockt, konsterniert. Die Restaurants waren überfüllt. Attraktionen und Kioske mussten kurzzeitig schließen. Aber die Simulation wurde wieder hochgefahren, Disneyland musste noch nicht einmal einen Tag schließen. Es gab in der dreizehnjährigen Geschichte von Disneyland überhaupt nur zwei Tage, an denen es geschlossen war. An dem einen aus ähnlichem Grund: Ein Sturm hatte gewütet, Bäume umgekippt, Dächer abgedeckt. Die Simulation musste neu gebootet werden, die Aufräumarbeiten übernahmen die normalen Mitarbeiter. Man blieb unter sich, wollte auch im Augenblick der Katastrophe so wenig Außenwelt wie möglich hereinlassen.

Der zweite Tag, an dem Disneyland geschlossen war, war der 12. September 2001. Einen Tag nach dem Ereignis. Da wurden plötzlich Bilder in die Welt geschleudert, die an Größe, Stärke, Einfachheit und letztlich auch an Authentizität nicht zu überbieten waren, alles stimmte, jedes Pixel auf der verwackelten Handkamera, die die Bilder als einzige filmte. 

Natürlich, der offizielle Grund war Pietät. Solidarität. Das sind Disneygründe. Man kann es auch als eine Hommage an ein Ereignis lesen, das sogar die Disney-Simulation überragte, fast war es ein Kniefall. Der Park durfte nicht öffnen, weil es unmöglich gewesen wäre, die Draußenwelt auszuschließen, die Gäste hätten sie einfach mit hineintransportiert, die Simulation wäre zusammengebrochen. Disneyland wäre nur noch zynisch gewesen. Das ist konsequent: Wenn man sieht, mit welchem Aufwand Disneyland die Simulation aufrechterhalten will, dann musste dieser Schritt passieren. Der Ausschluss der Gäste war zu diesem Zeitpunkt die einzige Möglichkeit, die Simulation Disney aufrechtzuerhalten.

Dabei funktionierte die mediale Ausschlachtung des 11. September auf genau dieselbe Weise, wie Disneyland funktioniert. Es gibt ein Bild (Micky Maus bzw. die fallenden Türme), das variiert wird, kopiert, kommentiert, neu gelesen. Plötzlich versiegt die Bilderflut, alles lässt sich zurückführen auf ein Bild. Plötzlich ist alles reduziert und damit begreifbar. Der 11. September war gleichzeitig Disneyland und ein Gegenentwurf dazu. Ein Gegenentwurf, weil  er genau das verkörperte, was Disney nicht ist: Grausamkeit, Tod, Katastrophe, kurz: Chaos, das Unüberschaubare. Gleichzeitig aber hat er sich desselben Prinzips bedient, nämlich Bilder einer solchen Einfachheit und Naivität, Bilder in der niedrigsten Stufe der Wahrheit, der Authentizität, in die Welt zu schleudern. Disneyland ist authentisch, weil es eine abgeschlossene Welt simuliert, die innerhalb ihrer Simulation sich selbst als authentisch definiert hat. Der 11. September war authentisch, weil die Mächtigkeit der Bilder zunächst keine Interpretationen zuließ. Dann irgendwann, Disneyland öffnete seine Zuckertore wieder, ging das Kommentieren, das Analysieren los. Nur noch ein Spektakel ohne Schockeffekt, ein andauerndes Feuerwerk an Abstraktion, das auch jetzt, kurz nach dem fünfjährigen Jubiläum, immer noch nicht versiegt ist. Die Bemühungen, den 11. September von einem authentischen Ereignis zur Simulation eines Ereignisses zu machen sind noch nicht abgeschlossen. 

All dem liegt eine Verwechslung zugrunde. Eine Verwechslung, die sehr gerne und sehr häufig gemacht wird. Nicht die Verwechslung von Realität und Fiktion – diese Grenzen sind so sehr aufgelöst, dass weder der Begriff Realität noch der Begriff Fiktion im Verhältnis Disneyland – Welt irgendetwas bedeuten würden. Disneyland ist eine institutionalisierte Realfiktion, Welt und Nichtwelt zugleich.

Die Verwechslung ist dieselbe wie die von Sex und Pornographie. Sex hat nichts mit Pornographie zu tun. Trotzdem wird man, wenn man das Wort „Sex“ googelt, fast ausschließlich auf Pornographie stoßen. Schaltet man aber den Jugendfilter ein, stößt man auf Sex – nüchterne Informationen, Wissenschaftliches, ein paar Theoretisierungen, meist mit Abbildungen, die den pornographischen in den Details kaum nachstehen. Sie sind nur anders belegt. Wir wollen Kinder nicht vor Sex schützen – wir schützen sie vor Pornographie.

Beides liegt nicht in der Abbildung an sich. Pornographie wird erst zu Sex, wenn der Kopf des Betrachters es zulässt. Pornographie ist kein Sex, sondern simulierter Sex - ähnlich wie Disneyland keine Realität ist, sondern simulierte Realität. Gleichzeitig, und wieder wie Disneyland auch Realität ist, ist Pornographie Sex. Diese Parallelen sind erstaunlich und offenkundig: Der Zweck von Pornographie ist es nicht, Sex abzubilden, sondern die Vorstellung von Sex abzubilden, die wiederum vom Betrachter als Sex angenommen wird. Das ist das stillschweigende Einverständnis, auf dem Pornographie basiert. Das Einverständnis, etwas völlig Realitätsfremdes als Realität wahrzunehmen. 

Sex hat so wenig mit Pornographie zu tun, wie Disneyland mit der Realität – es sind Systeme einer anderen Art, die auf ihre Weise geschickt mit Simulation und Begrifflichkeiten spielen, so dass sie sich anstelle des Realen als Reales anbieten und angenommen werden können; angenommen werden, weil sie in ihrer Eigenschaft als Simulation sich selbst zwar als Abbild des Realen darstellen und definieren, aber eben auch grob vereinfacht sind. Pornographie ist die einfachere Variante von Sex, Disneyland die einfachere Variante von Welt.

Der 11. September nun war die einfachere Variante eines Ereignisses: Er musste nicht erst neu eingelesen und medial bearbeitet werden, er musste nicht abstrahiert werden, um die Form eines Ereignisses zu bekommen. Es reichte, die unkommentierten Bilder auszustrahlen, die mit einer riesigen Kraft sagten, dass sie da sind, und auch so schnell nicht wieder verschwinden. Es war keine Nachricht, die man einfach überzappen konnte. 

In dieser Hinsicht hat der 11. September mehr mit Sex zu tun, und Disneyland mehr mit Pornographie. Disneyland ist die Pornographie der Welt, der 11. September der Sex der Welt. Die Nähe von Sex und Tod wurde immer schon betont, und es gibt einen Grund dafür. Bei beidem bleibt einem meist nur noch die Möglichkeit Gott anzurufen, sich in die Hände von jemandem zu begeben, der einen in einem verwundbaren Moment schützen kann.

Hinreichend ausgeschlachtet ist die Tendenz in den USA, nach dem 11. September der Religion einen höheren Stellenwert zu geben. Auch hier lässt sich Disneyland als Beispiel heranziehen: Wo, wenn nicht dort, ist man unverwundbar, ist man geschützt? Nicht zuletzt deshalb sind Nachrichten über Verletzte und Tote in Disneyland etwas, das man dort nicht hören will. Denn letzlich sind Gott und Micky Maus fast desselbe: Etwas, in dessen Armen man sich sofort besser fühlt. Und für die chaotische Welt da draußen gerüstet.

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