Montag, 26. November 2012

Lokal begrenzt


Itzum ist ein der eigentilchen Stadt vorgelagerter Stadtteil von Hildesheim, wo ich ja nun einmal wohne. Und es sollte einmal ein Buch geben, in dem sich kurze Texte mit der Geschichte von Itzum auseinandersetzen - ein schönes, kleines, lokal begrenztes Buchprojekt, eine kleine, feine Analyse einer schizophren-ländlichen Gegend. Leider hat das Buch nie das Licht der Welt erblickt. Daher jetzt hier: Wie ich einmal heldenhaft über Land wanderte.





Itzum im Abendlicht
Eine Entdeckungsreise


Weil es da draußen noch Romantik gibt.
Bild von mir.
Jahrelang habe ich die Busverbindungen verflucht, die mich immer wieder dazu gezwungen haben durch Itzum zu laufen. Jahrelang bin ich zwischen den Vorgärten, Spielplätzen, Menschen herumgelaufen und wollte nur eines: Möglichst schnell wieder weg. Jahrelang habe an Itzum vorbeigelebt, obwohl ich fast täglich dort war. Jahrelang habe ich einen ganzen Stadtteil nicht gesehen.

Am Ende rufe ich M. an, und schreie – wegen der schlechten Verbindung, aber auch völlig euphorisiert – ins Telefon: „Es ist so schön hier! Ich wusste das gar nicht, es ist so schön hier!“  Die Sonne geht unter. Ich war den ganzen Tag in Itzum. Ich habe einen Sonnenbrand auf der Stirn. Vielleicht liegt es am Himmel, an den Pflanzen, am Frühling: Das macht fast blödsinnig glücklich. Und am flachen Land, das beruhigt den Kopf. 

Unter Hildesheimer Studenten bedeutet es den sozialen Tod, in Itzum zu leben: Kein Mensch will da abends noch hinfahren, in einer Stadt, in der sich alles andere innerhalb einer Viertelstunde zu Fuß erreichen lässt.  Und zurück geht’s sowieso nicht, nicht nach zehn Uhr abends jedenfalls, und da gehen die meisten erst los. Wer sich dafür entscheidet, in Itzum zu wohnen, der muss sich von vielen Freunden verabschieden, zumindest aber davon, abends nochmal spontan irgendwo hinzugehen. 


Am Anfang gehe ich in einen Supermarkt, ich gehe immer gerne in Supermärkte, wenn ich fremd bin: Supermärkte sind wie Staubsauger. Sie saugen die Menschen und ihre Bedürfnisse auf, und lagern sie in konzentrierter Form.  In Itzum gehen die Supermärkte so: Vor der Tür steht „Witwe Boltes Hähnchengrillerei“, ein schreiend gelber Wagen, in dem es auch „frisch frittierte Pommes“ für einen Euro gibt.  Drinnen arbeiten keine mittelalten Menschen: Es gibt junge, Schüler, die räumen die Regale ein, und es gibt alte Frauen, die Sorte, die diese in eigenartige Muster gedrehten Kurzhaarfrisuren tragen: Das sind die, die den Schülern Anweisungen geben, wenn sie gerade nicht miteinander reden. Es ist nicht voll in dem Supermarkt, aber es sind nur Frauen dort. Ein pickliger Junge räumt Aufbackbrötchen ins Kühlregal. 

Neben dem Supermarkt ist ein Wohnviertel, ein verkehrsberuhigte Zone, die doppelt beruhigt ist. Tempo 30, klar, graue Steine, die man sie eigentlich nur in Einfahrten legt, damit es bloß nicht nach Straße aussieht, riesige Blumentöpfe, die die Familienväter mit ihren Familienautos umkurven müssen, wenn sie von der Arbeit kommen, und ihre Autos in ihre Carports fahren, die neben den bunten Vorgartengewächsen stehen. Überhaupt, Vorgärten: Es gibt zwei Sorten. Die einen sind wohlsortierte Triumphe über das Chaos der Natur, akkurat gebaute Installationen, aktuelles Thema: Frühling, also, Tulpen. Magnolienbäume. Rosane, buschige Blüten. Demnächst dann wohl Pfingstrosen.
Die andere Sorte Vorgärten sind Bollwerke stacheliger Hecken, quadratisch getrimmte Lorbeerwucherungen, durch die niemand durchkommt, mit versteckten, überwachsenen Zugängen, als schliefe dahinter ein Dornröschen, und wartete auf einen Prinzen.  Man kann durschauen, manchmal, im Vorbeigehen hineinzwinkern, und meistens liegt da kein Dornröschen, sondern einfach nur irgendjemand im Garten, auf einer Liege, manchmal ein Bier neben sich, manchmal einen Eistee. 

Ich kenne diese Leute nicht, noch nicht einmal aus meiner Kindheit, als wir auch in einem Neubaugebiet wohnten, als wir den Garten mit den tausend Apfelbäumen hatten: Dort gab es solche Leute, solche Häuser, solche Vorgärten nicht: Wir wohnten auch nicht dicht an dicht, es gab kein Platzproblem: Meine Mutter wollte einen Teich hinter dem Haus, und mein bester Freund hatte einen ausrangierten Trabbi im Garten stehen, und wir waren abwechselnd Michael Knight. In Itzum ist es ein bisschen, als seien diese Vorgärten Fronten, Burgen, Schlösser: Entweder, man blendet den Nachbarn aus oder man baut einen Wall und hält ihn sich vom Leib. 

Es gibt Kinder, Jugendliche, solche, die nicht die Aufbackbrötchen einräumen: Ich finde sie später, hinter den Vorgärten, hinter den Spielplätzen sogar. Neben der Grundschule ist ein Skate-Park, wenn man es so nennen will: Zwei altersschwache Sperrholzrampen, ein Mädchen und ein Junge sitzen daneben auf einer Bank, beide tragen Röhrenjeans und sehen traurig aus, ihre Skateboards unter die Bank gelegt. Der Skate-Park ist in einem Zwischenraum, dort wo frische Häuser, die noch nach Neubau riechen übergehen in die Felder, wo die Häuser älter und größer werden, bis sie am Ende ein Hof sind, wo die Geschäfte nicht mehr Rewe heißen, sondern „Ihr Bäckerlädchen“.
Die Vorgärten, das ist Neu-Itzum, das ist irgendwann einfach so explodiert und war da, eine ganze neue Galaxie, die einfach so entstanden ist. In Alt-Itzum gibt es Hühner, und Pferde. Heuballen. Eine junge Frau wirft einen Brief ein, und wird von einem alten Mann angesprochen: Die beiden kennen sich, und lachen. 

Ich frage mich, was die beiden, überhaupt, alle, von den Studenten denken, die hier einfallen: Die in Massen zur Domäne Marienburg strömen, die, wenn die Busse mal wieder nicht fahren, ihren Trek beginnen, den Berg hoch, die nichts wollen als einfach nur weg, die sich nicht interessieren für das bald anstehende Maifest vor der Heinrich-Engelke-Halle, für die Sprechstunde des Ortsvorstehers: Ich frage mich, ob wir hier stören, ob wir hier  Eindringlinge sind, aber wir sind nicht die einzigen: In Itzum gibt es, grob gesagt, drei Lebensfronten: Die Bauern, die Zugezogenen, und die Studenten.  Und jeder ist ein Eindringling im Leben des anderen, und trotzdem berühren sich die Leben nicht.

Die blödsinnig glücklich machende Sonne, ja, der Blütengeruch hier überall: Süßlich, und noch nicht vergoren. Hinter den Bauernhöfen stößt man auf eine freie Fläche, die Innerste fließt da, und es gibt einen Radweg, den kaum jemand je benutzt, irgendwo im Hintergrund kräht ein Hahn, ununterbrochen, als hätte er die letzten paar Tage verschlafen und wolle es nun wieder gut machen.
Hinter mir ist Itzum, und vor mir offenes Land, das in sanfte Hügel übergeht. Und ich nehme mein Handy in die Hand, eigenartig erstaunt, dass es hier Netz gibt, obwohl das ja nun kein Wunder ist, aber trotzdem. Ich nehme mein Handy, weil es hier ruhig ist, weil, ich weiß nicht, irgendwas mit mir passiert. Weil ich es jemandem sagen muss: Wie saumäßig schön die Gegend eigentlich ist, wenn man sich erstmal daran gewöhnt.

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