Dienstag, 27. November 2012

Penisse

Sie sieht dich. Bild von hier.

Dieser Essay entstand ursprünglich für einen Wettbewerb für Radioessays, und schaffte es dann offensichtlich doch nicht, jemanden von sich zu überzeugen. Das Thema was "Der / die / das nächste, bitte", und ich weiß nicht, warum er nicht genommen wurde. Vielleicht, ziemlich oft das Wort "Penisse" benutzt wird. Vielleicht, weil das Thema doch etwas arg nerdig ist. 

Vielleicht ist er auch einfach nur schlecht. Andererseits konnte ich ihn ja doch veröffentlichen, und habe von der ein oder anderen Seite Gutes darüber gehört.



Heute wirkt er ein bisschen altbacken, als sei schon viel mehr Zeit als die zwei Jahre vergangen, seitdem er entstanden ist. Spricht heute noch jemand von Chatroulette? Ich wusste noch nicht einmal, ob die Seite noch online ist. Sie ist es noch, Und sie funktioniert noch. Und an ihrer Penislastigkeit hat sich auch nichts geändert. 



Andererseits glaube ich, über Chatroulette hinaus, dass die grundsätzlichen Aussagen des Essays noch aktuell sind: Dass der Raum, in dem man im Netz agieren kann und soll konsequent kleiner wird. Dass Aufmerksamkeit generieren heißt,  die User davon abzuhalten herauszufinden, was es sonst noch gibt, was das nächste ist. Und dass es genau deshalb immer wieder etwas neues, etwas nächstes gibt. Dass Chatroulette auch schon wieder alt ist und keinen mehr interessiert, ist auch nur ein Symptom davon.



Penisse sind erst der Anfang


Eigentlich ist das System "Chatroulette" ganz einfach, wenn man es nach dem Abflauen der Hysterie betrachtet: Man setzt sich vor die Webcam, und Chat- Roulette verbindet einen per Zufallsgenerator mit jemandem, der gerade genau dasselbe tut.

Leider ist das allzuoft jemand, der meint, ihm beim Masturbieren zuzusehen, sei genau das, worauf sein neuer, zufälliger Freund gerade noch gewartet hätte.

Jeder Chatroulette-Nutzer ist anonym. Und wer anonym ist, hat mit niemandem Konsequenzen auszuhandeln als mit sich selbst. Also sind alle Regeln erst einmal außer Kraft gesetzt. Sowohl diejenigen die Chatroulette vorgibt - „16+, clothes“ - als auch grundlegende Regeln des menschlichen Zusammenlebens wie „Du sollst Fremden nicht deinen erigierten Penis zeigen und sie dann noch fragen, ob sie dir ihre Brüste zeigen“ Oder umgekehrt, auch das soll es geben. Positiv formuliert heißt das: Bei Chatroulette ist jeder sich selbst überlassen.

Der Notausstieg ist der Next-Button, unten rechts, unter dem eigenen Bild: Wenn meine Maßstäbe und die des Partners nicht zusammenpassen, steige ich einfach aus. Oder, weniger drastisch formuliert: Wenn der Partner mir zu nackt, zu angezogen, zu dünn, zu dick, zu dumm, zu klug oder zu laut ist, wenn ich also, nach Hundersttelsekunden oberflächlicher Bewertung zu dem Schluss komme, dass wir nicht zusammenpassen, kann ich schnell und einfach verschwinden. Das ist die einzige Regel, die bei Chatroulette gilt. Wer nicht will, kann weiter. Immer, jederzeit. Der Nächste wartet schon.

Die Gier nach Aufmerksamkeit

Viele Chatroulette-Nutzer gieren nach Aufmerksamkeit. Manche Nutzer inszenieren regelrechte Sekunden-Performances, um den Anderen sofort zu fesseln und bei der Stange zu halten. Es gibt einen Nutzer – man stolpert hin und wieder mal über ihn oder seine Nachahmer – der in Sekunden eine Zeichnung seines Gegenüber anfertigt. Es gibt Musiker an buchstäblich jeder Art von Instrument, von Zeit zu Zeit sogar komplette Bands, die für den Anderen vor der Webcam agieren: Ein Wohnzimmerkonzert über den Atlantik hinweg. Der Next-Button generiert tausendfach kreative und ungewöhnliche Strategien, die nur dem einen Zweck dienen, den Anderen davon abzuhalten, ihn zu benutzen. Ähnlich gilt das auch bei Facebook: Man will eben nicht zu einem beliebigen Teil des Nachrichtenstreams seiner Freunde werden. Es ist die Suche nach zumindest einem User, der den „Gefällt mir“-Button klickt, zumindest einem, der nicht den „Next“-Button klickt.

Anders ausgedrückt: Diese Selbstinszenierung ist auch ein Marktmechanismus. Das Netz ist eine endlose Überforderung von parallelen Streams, es gibt immer ein Nächstes. Und noch eines. Und noch eines. Die Kunst ist, den Anderen das Nächste vergessen zu lassen. Diesen Mechanismus zu finden, der den Anderen für eine Zeit lang innehalten lässt, ist der Heilige Gral des Internets. Gewonnen hat eigentlich schon, wer das nur für eine Minute schafft. Das gilt für gestandene Nachrichtenredaktionen genauso wie es für Inhaber von Katzenblogs gilt. Gewonnen hat, wer den Anderen dazu bringt, sich eben nicht das Nächste anzuschauen, sondern diesen Artikel, diesen Post, diesen Teil des Streams. Wer Aufmerksamkeit will, braucht Strategien, sie zu generieren. Und je größer das Angebot ist, desto ausgefeilter müssen diese Strategien sein.

Anonymität ist out

Die Anonymität und das Spiel mit Identitäten im Netz sind in letzter Zeit aus der Mode gekommen. Wer durch die Ruinen der einstmals blühenden Zivilisation von Second Life wandert, bekommt einen guten Eindruck davon. Auf keiner der aktuellen Social-Networking-Seiten wird mit Pseudonymen gearbeitet, im Gegenteil, der richtige Name ist ja gerade erforderlich, wenn man auffindbar sein will. Facebook ist das genaue Gegenteil von Anonymität. Man legt sich selbst dort möglichst genau an, man ist tausendfach gespeichert und verlinkt. Und die Anderen, diejenigen auf der Freundesliste, machen mit. Was eben genau der Grund ist, weshalb Facebook nicht von masturbierenden Armeen niedergerannt wird. Der nächste Mensch, den ich wirklich kenne, ist nie weit entfernt. Jeder kennt die Geschichte von dem, der seinen Chef anrief, und sagte, er sei krank, und danach die Fotos von der gestrigen Tour durch die Kneipen hochlud. Und dabei vergaß, dass sein Chef auch gleichzeitig einer seiner Facebook-Freunde war. Wegen des Spiels mit Anonymität ist Chatroulette in den Medien auch als das „Anti-Facebook“ bezeichnet worden. Das ist nicht weit genug gedacht. Natürlich, niemand gibt bei Chatroulette Informationen über sich Preis, jedenfalls nicht so, wie bei Facebook. Keiner der Partner kennt den Namen des Anderen, seinen Standort, seine Meinungen, was er mag und nicht mag. Es gibt nichts als das Kamerabild des Anderen. Privater als das kann man kaum noch werden. Denn diejenigen, die dem Anderen eine Sekundenperformanz bieten, und diejenigen, die ihren Penis vorzeigen, das sind bei Chatroulette die Ausnahmen, das sind die Extreme. An denen kann man zwar gut erklären, zu welchen Höhen oder Tiefen diese Zufallskamerabekanntschaften animieren können. Meistens aber ist der Andere jemand, der den Kopf geneigt hat oder in die Hände stützt und dabei gelangweilt in die Kamera schaut. Der an seinem Schreibtisch sitzt, oder in seinem Wohnzimmer, manchmal auch im Bett liegt. Der, mit anderen Worten, zuhause ist.

Das private Molekül des Anderen

Facebook ist eher textbasiert, damit abstrakter, kontrollierbarer. Chatroulette erlaubt den unverstellten Blick ins Gesicht eines Fremden, in seine Wohnung. Die Bewertungsmechanismen funktionieren genau wie bei jemandem, der sich ungefragt im Café mit an den Tisch setzt. In Sekundenschnelle prallen Menschen aufeinander, wird der Andere aufgrund spärlichster Informationen in eine Schublade gesteckt. Einerseits sind die Informationen für eine solche Einordnung bei Chatroulette geringer: Der Andere ist nicht komplett da, nur ein kleiner, verzerrter Webcam-Schnipsel, nur ein Molekül des Anderen. Andererseits gewährt er auch Einblick in seinen Wohnraum, oft tatsächlich in einen so privaten Raum wie das Schlafzimmer. Das Problem ist, dass sich Intimität dabei schnell und sehr unmittelbar einstellt, Nähe aber nicht. Es ist, als wäre man bei einem völlig Fremden zu einem Gespräch eingeladen, während dieser gleichzeitig auch bei einem selbst eingeladen ist. Was wiederum bedeutet, dass beide sich bewegen wie in einer fremden Wohnung: Vorsichtig, weil sie nicht wissen, was erlaubt ist und was nicht, was sie anfassen dürfen und was nicht.

Das neueste Kolonisierungsprojekt

Auf jeder anderen Kommunikationsplattform, die im Internet gab und gibt, kommt man leichter mit Fremden ins Gespräch. Das ist vor allem eine Frage des Raums, in dem man sich begegnet: Ein ganz normaler Chatraum ist wie eine weiße Wand im öffentlichen Raum, die kollektiv beschrieben wird, und damit in Besitz genommen. Ein Raum wird erobert. Second Life funktionierte ähnlich, nur, dass der Raum nicht nur erobert werden konnte. Er konnte dauerhaft verändert und eingerichtet werden. Er konnte bewohnt werden. Ähnlich funktioniert Facebook, nur eben nicht anonym. Hier wohnen keinen Avatare, sondern echte Menschen. Sie verlängern ihren Wohnraum ins Netz hinein, sie richten sich richtigehend ein: Sie tapezieren ihr Profil, sie hängen Fotos auf, sie bauen einen Plattenschrank. Das eigenartige, und einzigartige an Chatroulette ist, dass es keinen Raum baut, der vom User zu kolonisieren wäre. Im Gegenteil, Chatroulette schafft diesen Raum konsequent ab. Bei Chatroulette wird nicht das Netz bewohnt, sondern der Wohnraum dahinter, und Chatroulette verbindet nur. Chatroulette erweitert nicht den Wohnraum ins Netz, es erweitert das Netz in den Wohnraum.

Das Netz ist von jeher ein Medium des Nebensächlichen gewesen, ein Medium unter der totalen Herrschaft des Nächsten, das ja immer schon da ist. Als schnelllebigstes Medium kann es nicht anders. Das geht sogar soweit, dass das Unwichtige mit dem wichtigen Tür an Tür wohnt, so dicht, dass es keine Unterschiede gib. Das Medium verwandelt seinen Inhalt, nicht der Inhalt das Medium. Im Netz wird alles zur Randnotiz. Wenn nun über die Belanglosigkeit beispielsweise von Twitter-Posts oder dem Facebook-Status gemäkelt wird, vergessen die Mäkler gern, dass genau das ein Symptom des Mediums ist. Genausogut könnte man man kritisieren, dass es im Radio keine Bilder gibt. Über Belanglosigkeit einzelner Posts im Netz zu mäkeln, ist auch und vor allem sinnlos, weil es den ganzen Rest ausblendet: Dass das Internet ein Medium des Nebensächlichen ist, hat auch und vor allem damit zu tun, dass es ein Archivierungsmedium ist. Es geht nicht um den einzelnen Post, es geht um das riesige Projekt alles, aber auch wirklich alles, zu archivieren, diesen unendlichen leeren Platz, der zur Verfügung steht, mit Information anzufüllen. Das Netz ist das neueste große Kolonierungsprojekt der Menschheit.

Keine Vergangenheit

Der Next-Button bei Chatroulette ist eines nicht: Ein Back-Button. Selbst die frühesten Chaträume, selbst die ältesten Newsgroups haben eine Vergangenheit, wenigstens insofern, dass beim aktuellen Chat immer zu dessen Anfang zurückgescrollt werden konnte. Chatroulette kennt kein zurück: Wenn der Andere weg ist, ist er weg. Es gibt keine Timeline wie bei Facebook, es gibt keine Chathistory, mit Hilfe derer man noch einmal an den Anfang zurückkehren könnte. Was in der Natur der Konstruktion von Chatroulette liegt. Es gibt ja keinen Raum, in dem irgendetwas archiviert werden könnte. Man muss das noch einmal betonen: Chatroulette eliminiert die Vergangenheit. Chatroulette hat keinen Raum, es verbindet nur Räume. Alle anderen Kommunikationsplattformen im Internet erweitern den verfügbaren Raum auf irgendeine Weise, und bieten irgendeine Art von Archiv. Chatroulette arbeitet einerseits dem Medium Internet zu, in dem es die Gegenwart und das Nächste zu den einzig gültigen Zeiten erklärt. Andererseits arbeitet es gegen das Medium, indem es die Vergangenheit leugnet, und keinen neuen Raum schafft, der zur gemeinsamen Kolonisierung freigegeben wäre. Im Gegenteil: Es verengt den verfügbaren Raum – für beide Beteiligten – auf einen kleinen, verpixelten Kameraauschnitt, der immer schon vom Anderen besetzt ist.

Und was kommt dann?

Wie geht es weiter? Natürlich lässt sich das nicht sagen, etwas anderes zu behaupten wäre nichts als die übliche prophetische Scharlatanerie selbsternannter Netzseher. Was sich allerdings sagen lässt, ist dass Chatroulette der vorläufige Höhepunkt einer schon jahrelang andauernden Verlagerung ist. Vor ein paar Jahren noch war das Internet hauptsächlich ein Archiv, einfach eine Ansammlung von Texten, Bildern und Videos, die auf unendlichem Raum verstaut wurden. Facebook, Twitter, und wie die ganzen Websites des Augenblicks heißen, haben damit begonnen, das Statische der Archivfuntkion zugunsten dynamischer Timelines aufzulösen. Das wiederum ergab eine Verlagerung von der Vergangenheit hin zur Gegenwart und zur Zukunft. Sie haben auch damit begonnen, das Netz als einen Teil des Wohnraumes zu begreifen, der eingerichtet und gepflegt werden muss, und damit eine Verlagerung von der Neutralität eines reinen Archivs hin zur Privatisierung des Netzes angestoßen. Gleichzeitig wird der Raum, auf dem tatsächlich agiert werden kann, immer kleiner. Obwohl das Netz theoretisch unendlich Platz bietet, ist die Zeichenzahl beschränkt, wird der Abstand zwischen den Posts immer kürzer. Chatroulette eliminiert die Vergangenheit restlos, schafft den Aktionsraum komplett ab und ist damit – vorläufig – die extremste Entwicklungsstufe eines jahrelangen Trends. Dass Chatroulette häufig abgetan wird als ein Spielzeug, in dem viel zu oft Penisse auftauchen, ist schade. Denn Penisse sind erst der Anfang.

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