Montag, 26. November 2012

Schöntrinken


"Hildesheim schöntrinken" ist ein Buchprojekt, das an der Uni Hildesheim entstand, mit Beiträgen von Studierenden aus dem Seminar "Ethnographisches Schreiben" unter Leitung von Stephan Porombka, und ich saß auch manchmal vorne und habe was erzählt. Erschienen ist das Buch in der Edition Pächerhaus, und ein paar Exemplare gibt es noch. Aufgemacht ist das Buch als Reiseführer, mit allerhand nützlichen Tipps zu Öffnungszeiten, Bierpreisen und ähnlichem. Aus irgendeinem Grund verkauft sich das Buch in Hildesheim ziemlich gut.

Mein Text ist eine Ausnahme: Der einzige im Buch, der in einem Laden beobachtet ist, in dem nicht hauptsächlich Alkohol getrunken wird. Dazu gehört er trotzdem: es geht ja in einer Kneipe immer nur so lange ums Saufen, wie andere Leute mitsaufen. 

Das Orient Relax gibt es leider nicht mehr, mittlerweile ist eine abstruse Mischung aus Bäckerei, Dönerladen und Café in den Räumen, und es heißt Baris. Der schwarze Tee ist aber immer noch ausgezeichnet, und das Börek ein Gedicht.

Gesponsert wurde das Ganze übrigens von der Einbecker-Brauerei. Daher das Cover.


Café Orient Relax


Bahnhofsviertel, Bahnhofsplatz
Öffnungszeiten: n/a
Kleines Bier (lies: Kleiner Schwarztee): 0,50 EUR
Sucuk-Baguette: 2,00 EUR
Empfohlene Trinkzeit: Frühstück (9:00 bis 13:00) oder zum Aperitif

Man könnte glauben, beim "Café Orient Relax" handle es sich um ein Café, denn es steht ja drüber: Café. Von solchen Schildern sollte der Ethnologe sich aber nicht täuschen lassen. Öffnungszeiten stehen nirgends, doch die Beobachtung ist folgende: Manchmal, wenn im Bierbrunnen nebenan nichts mehr los ist, ist noch Licht im Relax, und man sitzt dort herum und lacht und scherzt.
Man könnte sicher anführen, das Relax sei schon allein deshalb ein Café, weil die Gäste kein Bier trinken, sondern Tee. Den aber trinken sie, als wäre es Bier. Sie bestellen eine Runde nach der anderen, beginnen lauter zu reden, bleiben stundenlang vor Ort, treffen sich mit dem Wirt, mit Freunden, Bekannten und Unbekannten, kurz: Sie verhalten sich, als wären sie in einer Kneipe. Das "Orient Relax" behält seine Gäste langfristig da, nicht mal eben zwischendurch auf einen Latte Macchiato. 




Dass dort Tee getrunken wird, liegt wohl am orientalischen Publikum, das sich – so die Annahme – mehrheitlich aus gläubigen Muslimen rekrutiert. Ob die Trinker oder die Besitzer des Orient Relax aber tatsächlich Muslime sind oder nicht, lässt sich nicht leicht herausfinden. Es gibt zwar Koranverse auf grün-goldenen Tellern und Fotos von Moscheen an der Wand, aber das könnte auch nur Dekoration sein. Selbst wenn die Besitzer Muslime sind, sind sie auch Geschäftsleute: Auf der Karte gibt es Bier. Es bestellt nur niemand. Sogar die Stammgäste des "Bierbrunnen", die hin und wieder von nebenan hereinkommen, damit sie nicht im Kalten rauchen müssen, sondern im warmen Raucherraum des "Relax" (der Bierbrunnen hat entweder keinen oder nur einen sehr kleinen Raucherraum), selbst diese Besucher aus dem "Bierbrunnen" bestellen laut, als würden sie Korn, Bier, Schnaps, Wein oder ein Herrengedeck bestellen: „Für mich einmal gesund, Achmed“, und sie bekommen einen kleinen schwarzen Tee, während sie im Dunst aus Zigaretten und süßem Wasserpfeifenrauch zur Ruhe kommen, glücklich aussehen und sich mit ihren Tischnachbarn unterhalten. Ob der Tischnachbar deutsch spricht oder nicht, spielt dabei keine Rolle. Zusammen rauchen und mit freundlicher Unterstützung der BILD meckern über die Welt, das verbindet. 
Sicherlich hat Raucherraum vom "Relax" dazu beigetragen, dass es hier immer voll ist. Der Raucherraum ist entstanden, als jemand ein paar durchsichtige Plastikplatten quer durch den Schankraum gezogen hat. Der Raucherraum ist zwar nicht der größte des "Orient Relax" – er darf es laut Gesetz nicht sein – , aber sicher der bequemste: Man lümmelt sich dort mit seinem Schwarztee in arabisch gemusterte Fauteuils, kann die Ausstellung orientalischer Plastikkrieger aus allen Jahrhunderten bewundern, die ihren wachsamen Blick von an die Wand geschraubten Bretten auf die Gäste richten, oder sich auf dem großen Plasmafernseher mit dem Sender „Power Türk“ auf den Stand der Dinge in der  türkischen Popmusik bringen lassen.
Fast ist es, als wäre das "Orient Relax" vom Himmel gefallen. Weil es nicht passt. Dort, wo es steht, war vorher ein In-City-Outlet-Store, der aufgeben musste, vermutlich, weil die Kleidung zu hässlich war, um sie in einer Stadt zu verkaufen, die viel Hässlichkeit gewohnt ist. Seither gibt es das "Orient Relax", das zwar dort steht, wo Hildesheim die größte Konzentration von Migranten aufweist, wo man aber trotzdem selten einen sieht. Außer eben im "Relax", wo sie ankommen und sich verhalten, als wären sie zuhause. Als wäre es ein Wohnzimmer oder zumindest etwas so Vertrautes, wie es kein Café je sein könnte, wie es aber eine Kneipe leisten kann. Das "Orient Relax" ist in dieser Hinsicht ein Refugium, es ist sogar so sehr Refugium, dass der deutsche Gast die meisten Gespräche dort nicht verstehen wird.
Aber dann findet auch immer mal eine eigenartige Vermischung statt: Es sind eben nicht nur ausländische Gäste. Manchmal sind es die vom "Bierbrunnen", und manchmal sind es andere Deutsche, die fast scheu hereinkommen, angelockt vielleicht vom großen Nicht-Nichtraucherzeichen am Fenster, sie schauen sich um, gehen zielstrebig Richtung Raucherraum, und stehen dann vor dem Problem, dass die meisten Tische besetzt sind, aber an jedem Tisch noch Plätze frei. Und immer noch scheu, als wären sie in einem fremden Land, dessen Rituale sie nicht verstehen, schleichen sich diese Deutschen zu einer Gruppe, und fragen, ob sie sich dazusetzen dürfen. Sie dürfen, immer, gerne. Denn im "Orient Relax" wird jeder aufgenommen, und zwar herzlich. Der Wirt duzt seine Gäste ab dem ersten Besuch, ab dem zweiten weiß er, was sie trinken, ab dem dritten stellt er es ungefragt auf den Tisch. 
Die Gäste des "Orient Relax" sind eben nicht nur Gäste. Sie sind Exilanten. Seien es Ausländer, die fern ihres Heimatlandes ein kleines Stück Rückzug suchen, oder seien es die Deutschen, die durch die Tür treten und plötzlich genauso fern ihres Heimatlandes sind. Die Gäste des "Orient Relax" sind alle Exilanten, eine zufällige Schicksalsgemeinschaft an ihrem eigenen Ort, der keinen Raum hat und keine Zeit.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen