Ganz ehrlich gesagt: Ich weiß nicht mehr genau, wann ich diese Kurzgeschichte geschrieben habe. Ich platziere sie einfach mal nach 2010, das könnte hinkommen, vielleicht war es aber auch 2011. Es spielt auch keine Rolle, es ist eine dieser Kurzgeschichten, die mir manchmal passieren, Ausschuss, ein paar Seiten, die ich hinhacke, wenn gerade eigentlich etwas anderes ansteht. Ausnahmsweise ist es mal eine, die ich tatsächlich beendet habe [Hier gibt es übrigens mehr davon für billig als eBook zu kaufen].
Es ist eine Geschichte, die ziemlich typisch für die Art ist, wie ich arbeite, auch, wenn sie sprachlich und inhaltlich mir zwar gefällt, aber doch eher Sub-Standard ist. Es ist aber, typisch für mich, eine wirr zusammgebastelte Angelegenheit aus Erinnerung und Erfindung, Borderline-Surrealismus, halb verstandenen Frauengeschichten und dazu noch immer wieder dieser Zoom auf vielleicht (etwas zu) symbolische Details.
Untypisch, für mich, ist dieses Medien-Ding, also zum Beispiel, dass es um einen Super Nintendo geht. Normalerweise versuche ich hermetische Referenzräume zu bauen, also Geschichten, die sich nur an ihrem eigenen Motivfundus bedienen - Ideengeber in ist da, in gewisser Weise, David Lynch - , und sie nicht mit allzu sehr belegten Fremdmotiven, also solchen von außen anzureichern (mir ist klar, dass das nicht vollständig möglich ist, trotzdem).
Das erleichtert mir meine leichte Tendenz zu surrealen Bildern, oder zu solchen aus dem magischem Realismus aber das sagen nur Leute, die mich beleidigen wollen. Auf jeden Fall ist es so viel einfacher, meine eigenen Motive zu unterwandern und zu drehen, es gibt mir eine größere Kontrolle über Motive und Bilder. Untypischerweise ist das in dieser Geschichte auch gar nicht so stark, in dem Sinn ist sie, für mich, auch ein bisschen experimentell. Aber nicht sehr.
Feigling
Bild von hier. |
Als
wir jung waren, sprangen wir ständig: Wir sprangen von Bäumen, wir
sprangen vom Rutschturm auf dem Spielplatz, im Sommer sprangen wir
ins Wasser und im Winter in den Schnee, wir sprangen in die dunklen
Keller verlassener Gebäude, um unseren Mut zu beweisen, und wenn es
nichts gab, von wo wir runterspringen konnten, sprangen wir einfach
auf der Stelle auf und ab. Als wir jung waren, verbrachten wir mehr
Zeit in der Luft als auf dem Boden.
Was
mich heute wundert, ist nicht, dass wir fünf Jahre lang
ununterbrochen flogen, viel mehr wundert mich, dass wir dabei so
selten fielen.
Es
gibt nur eine Verletzung, an die ich mich erinnern kann: Ich brach
mir beide Arme. Zuerst merkte es niemand. Ich war von einem
Kastanienbaum gesprungen, es war Herbst, und wurde früh dunkel, ich
hatte die Kastanien übersehen, die unten um den Baum lagen. Ich
landete zwar auf den Füßen, aber meine Füße rollten auf den
glatten Früchten weg, mitten im Schwung meines Aufpralls, ich fiel
nach vorne, und knallte mit beiden Armen auf die Kastanien. Meine
Freunde – diejenigen mit denen ich damals flog – standen in einem
Kreis um mich herum. Unsere Eltern riefen uns praktisch gleichzeitig
zum Essen rein.
Heute
würde ich sagen, wir waren Wohlstandskinder, aber unsere Eltern
konnten nicht anders. Wenn wir etwas nicht hatten, dann war es nicht,
weil unsere Eltern es sich nicht leisten konnten, sondern weil sie es
nicht vertreten konnten, weil sie es nicht wollten, und uns in langen
Monologen erklärt, warum.
Einige
von uns traf es schlimmer als die anderen. Meine Eltern versteckten
beispielsweise immer das Antennenkabel des Fernsehers im obersten
Küchenregal, wenn sie alleine weg fuhren, und zwangen mich so zu
aufwändigen Kletterpartien über die glattgeputzten Arbeitsflächen.
Christian, einer von uns, der älter war, und einem manchmal spontan
den Arm auf den Rücken drehte, hatte fast alle He-Man-Figuren, einen
Fernseher im Zimmer, und einen Super Nintendo, mit dem wir an
regnerischen Tagen sprangen.
Als
ich sechs wurde, waren wir in das Dorf gezogen, 700 oder 1000
Einwohner muss es gehabt haben, es passierte nicht viel. Es gab in
dem Dorf kein Krankenhaus, das nächste war eine halbe Stunde
entfernt, und wenn man noch die halbe Stunde dazu rechnet, bis meine
Eltern bemerkten, dass mit meinen Armen etwas nicht stimmte, und die
Wartezeit in der Notaufnahme, dauerte es fast anderthalb Stunden, bis
die Brüche behandelt wurden. Sie waren glatt, ich bekam einen Gips
um jeden Arm, blieb eine Nacht im Krankenhaus, und war so schnell
wieder zu hause, dass ich die Glückwunschkarten, die im
Kunstunterricht für mich gebastelt wurden, mir nach Hause
nachgeschickt werden mussten. Am nächsten Tag fuhr ich schon wieder
Fahrrad, es war nur etwas schwerer als normal.
Wir
wohnten in dem neuen Neubauviertel, unser Haus war aus rotem
Backstein, es sah frisch aus. Christians wirkte verschimmelt: Er
wohnte in dem alten Neubauviertel, das Haus seiner Eltern war grau,
Beton, den jemand zu Dekorationszwecken mit zerbrochenen
Muschelschalen angereichert hatte, und an das Grau hatten sich Algen
gesetzt, die unter den Regenrinnen grün-gelbe Ablaufspuren
hinterlassen hatten. Meine Eltern sagten zu mir, dass Christian kein
guter Umgang für mich sei, aber nicht, weil seine Eltern weniger
verdienten als meine, nicht, weil sein Vater nicht im gehobenen
mittleren Management arbeitete wie meiner. Sie sagten, Christian sei
dreckig, dreckiger als ich, sie sagten, seine Eltern seien kein guter
Umgang, der Vater tränke, das wüssten sie, weil sein Vater meinen
immer in der Dorfkneipe träfe, nur ginge meiner immer früher, das,
und fünf, sechs andere Gründe.
Ich
hatte zwei Gründe dafür, mit meinen gebrochenen Armen zu Christian
zu fahren: Einer war sein Nintendo, wir wollten damit klettern und
springen, wenn ich es wegen der gebrochenen Arme schon nicht draußen
tun konnte. Von dem anderen wusste niemand etwas. Ich weiß nicht, ob
Christian etwas ahnte, ich vermute nicht, zumindest in einem hatten
meine Eltern recht: Er war nicht unbedingt klug, jedenfalls bemerkte
er nicht, dass ich eigentlich gar nicht wegen ihm da war, sondern
wegen Annika.
Annika
war das einzige Mädchen in unserer Gruppe, und eine unserer besten
Springerinnen: Sie war diejenige, die in der verlassenen Fabrik als
erste in das Kellerloch gesprungen war, dessen Boden man nicht sehen
konnte. Sie hatte es mit ihren Eltern sogar noch schlimmer getroffen
als ich: Sie waren geschieden, Annika lebte bei ihrer Mutter. Sie
durfte nur dritte Programme sehen, und das auch nur unter Aufsicht,
außerdem kaufte ihre Mutter ihr nie Hosen. Wenn wir übers Fernsehen
sprachen, konnte Annika nicht mitreden, und zum Springen war sie
denkbar schlecht angezogen. Einer unserer Lieblingssprungplätze war
der Spielplatz, von dessen Rutschturm wir immer sprangen. Außerdem
pinkelten wir die Rutsche runter. Da war Annika mir aufgefallen.
Viele
von uns hatten vor ihrem ersten Sprung länger überlegt, länger
oben auf dem Turm gestanden, und mehr Angst vor der Höhe gehabt als
Annika an dem Sommerabend, als sie das erste mal sprang. Sie stand
kaum 10 Sekunden auf dem angemorschten Holzgerüst, und dann segelte
sie mit ausgestreckten Armen in den Sand. Sie trug ein leichtes
Sommerkleid, mit hellblauen Blumen, und der Sprungwind klappte es
hoch, so dass wir alle, für die Hundertstelsekunde ihres Falls ihre
Unterwäsche sehen konnten, auf der rote Herzchen waren. Wir alle
reagierten anders drauf: Christian lachte sie aus. Andreas, der immer
der kleinste und zierlichste von uns war, und mir kurz vor dem Abitur
gestand, dass er glaube, schwul zu sein, drehte sich weg. Gerald, den
wir alle nur Gerry nannten, ging hin und half ihr auf. Er übernahm
später das Baugeschäft seines Vaters: Er war einer dieser Menschen,
deren Lebensweg von Geburt an vorherbestimmt ist. Ich stand nur da
und starrte.
Es
fällt mir heute schwer, im Zusammenhang mit dem Kind, das auf dem
Spielplatz stand und auf das erste Mädchen seines Alters starrte,
dass er in Unterwäsche gesehen hatte, von Liebe zu sprechen. Wir
alle hatten sie dabei beobachtet, wie sie sich hinhockte und die
Rutsche hinunterpinkelte, genau wie sie uns dabei beoachtet hatte.
Dass Annika ein Mädchen war, und aussah wie eines, war nichts
grundsätzlich neues für uns. An Annika interessierte mich nicht,
was während des Sprunges passiert war, mich interessierte, warum sie
überhaupt gesprungen war.
Ich
war oft bei Christian, und es war nicht nur der Nintendo. Es war auch
Annika. Unser Dorf war klein, und niemand wohnte weit auseinander:
Der Weg von unserem frischen Viertel in Christians altes dauerte
keine zwei Minuten. Dass Annika neben Christian wohnte, könnte also
Zufall gewesen sein, es war fast unvermeidlich, dass einer von uns
neben dem anderen wohnte. Wir alle waren Nachbarn. Dass ihr
Zimmerfenster aber direkt gegenüber dem von Christian lag, dass man
sogar hineinsehen konnte, war mehr als Zufall, daran glaubte ich
damals, wie ich heute daran glaube. Auch alles andere, was bei
Christian passierte, muss ich für mehr als Zufall halten, obwohl es
nur langsam begann. Christians Eltern waren zwar weniger rigide, in
ihren Ansichten darüber, was ihren Sohn verderben könnte, dafür
musste er aber helfen: Alle paar Stunden rief seine Mutter ihn
runter, er musste den Müll vor die Tür bringen, er musste die
Spülmaschine ausräumen, oder die empfindlichen Teile von Hand
abwaschen, das, und hundert andere kleiner Aufgaben. Kurz vor dem
Abendessen musste Christian helfen, den Tisch zu decken. Mir machte
das nichts: Ich sah kaum vom Bildschirm auf, ich drückte einfach
weiter auf Knöpfe und sprang auf dem Bildschirm, obwohl es nicht
einfach gewesen war, meine gebrochenen Arme weit genug
zusammenzubringen, dass ich den Controller halten konnte.
Christians
Fernseher stand links unter dem Fenster, ich starrte darauf, und
nehme an, ich hätte wohl kaum bemerkt, dass sich jemand in Annikas
Zimmer bewegte, wenn sie nicht immer und immer wieder das Licht an-
und ausgeschaltet hätte, wie um mir ein Morsesignal zu senden, das
letztendlich aber nichts bedeutete als: Schau mich an. Es gab keine
aufwändige Fenstershow, als sie es endlich geschafft hatte, dass ich
aufstand, an Christians Fenster ging und ihr zuwinkte: Sie winkte
zurück, drehte sich einmal um die eigene Achse, und winkte noch
einmal. Und das war es dann.
Die
Fenster waren vielleicht drei oder vier Meter voneinander entfernt,
und obwohl es regnete, war es Sommer: Es war vollkommen logisch, dass
sie ihr Fenster öffnete. Vielleicht war sie auch eine Weile nicht in
ihrem Zimmer gewesen, und wollte lüften: Diesen eigenartigen
Mädchengeruch herauslassen, der – das beobachtete ich später –
gar nicht von den Mädchen oder Frauen selbst, von ihren Körpern
ausgeht, sondern von dem, was sie damit berühren, wie von einer ganz
speziellen Mädchenaura infiziert.
Annika
öffnete ihr Fenster, und legte ihre Arme auf das Fensterbrett, Regen
tropfte auf ihre Haare. Ich öffnete Christians Fenster. Wir sahen
uns in die Augen, Zwischen uns war nichts als die Höhe des halben
Hauses. Heute glaube ich, dass Annika geflüstert hat, aber
eigentlich kann das nicht sein: Immerhin regnete es, immerhin war es
ein ganzes Stück bis zu ihr rüber. Wie auch immer, Annika sagte:
Spring.
Wären
meine Arme nicht gebrochen gewesen, ich hätte es vielleicht getan.
Vielleicht ist das aber auch nur eine Ausrede, die ich mir später
zurechtgelegt habe. Es ist mir klar, dass Annika nicht von mir hätte
verlangen dürfen zu springen, weder mit gebrochenen Armen, noch
ohne. Es war zu weit, es war zu gefährlich, der Fall wäre zu tief
gewesen, es hätte zu viel schief gehen können. Es ist mir klar,
dass sie die Unvernünftige war, und ich der Vernünftige. Sie wäre
sicherlich trotzdem gesprungen. Als Christian zurück kam, und mir
sagte, dass das Essen fertig sei, Rosenkohl, zum Kotzen, wie er
sagte, war das Zimmer gegenüber wieder dunkel, als wäre nie etwas
passiert.
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